Heute feiern wir gemeinsam den 1. Mai und seit 1890 gilt der 1. Mai als „Kampftag der Arbeiterbewegung“ im Gedenken an die Opfer eines Streiks der Arbeiter in Chicago. Also sind wir daran, zum 123. Mal diesen Feiertag zu begehen. Und es ist der einzige Feiertag, der auf der ganzen Welt, in allen Kulturen durchgeführt wird.

Natürlich frage ich mich immer wieder, ob ich der richtige 1. Mai Redner bin.

  • Ich war zwanzig Jahre als Stadtpräsident von Biel einer der grössten Arbeitgeber dieser Stadt, und habe in dieser Eigenschaft auch Demonstrationen gegen mich erleben müssen. Heute bin als Präsident mehrerer Organisationen Chef und stelle Menschen an.
  • Ich bin daher nicht eben ein begnadeter Redner, der mit kämpferischen Worten gegen das Kapital und die herrschende Klasse loszieht
  • Ich bin zwar seit beinahe 40 Jahren Mitglied einer Gewerkschaft, aber nur ein einfaches, zahlendes Mitglied, ohne gewerkschaftliche Funktion
  • Schliesslich habe ich als Ständerat im nicht eben mehrheitlich rotgrünen Kanton Bern die Interessen aller zu vertreten – und dort gefällt es mir nach wie vor.

Und trotzdem nutze ich diese Möglichkeit, mit Euch über den Tag hinaus zu denken. Dabei muss ich feststellen, dass heute dieser „Tag der Solidarität“ überhaupt nichts von seiner Bedeutung verloren hat. Weder weltweit noch bei uns in der Schweiz. Den internationalen Tag der Arbeit braucht es immer noch – und ich glaube im Zeitalter der Globalisierung noch mehr.

Wir brauchen mehr Gerechtigkeit auf unserer Welt. Dank dem Kampf der Gewerkschaften gegen Ausbeutung und Verelendung sind in unserer Welt  Verbesserungen erzielt worden. Es war eine Bewegung mit langem Atem, die sich auch nicht durch Rückschläge und Niederlagen hat entmutigen lassen. Aber es reicht nicht und sowie wie die Unternehmungen sich global organisiert haben, müssen dies auch die Gewerkschaften tun. Es braucht Instanzen, die sich um die Durchsetzung der global geltenden sozialen Grundrechte kümmert. Es ist ein kleiner Trost, dass auch die einzelnen Staaten oftmals ungeniert und kaltschnäuzig ausgespielt werden. Demnach muss auch die Staatengemeinschaft gestärkt werden. Aber ohne den Einsatz der Gewerkschaften würden die einzelnen Länder und unsere Schweiz erheblich anders, kälter, und weniger demokratisch aussehen.

Weder Hunger, noch Armut oder Krieg sind erdbedingt, von Natur aus gegeben. Auf unserem Planeten hätte es genügend Nahrung, Reichtum, Geld und Frieden sowieso.  Aber es sind die von Menschen geschaffenen Macht- und Marktverhältnisse, welche verantwortlich sind für diese Ungeheuerlichkeiten, Ungerechtigkeiten und Irrwege.

Deshalb sind es auch die Menschen selbst, welche diese Verhältnisse verändern können. Dazu braucht es sozial und demokratisch organisierte Staaten, nicht nur Nachtwächter.

Aber auch in unserem Land braucht es den täglichen Einsatz für Mehr: Mut und Aufgeschlossenheit, für mehr Gerechtigkeit.

Unsicherheit greift auch bei uns um sich. Wegen der Globalisierung, der Bildung von anonymen Machtgebilden in der Wirtschaft und in der Politik. Hor-Sol Manager, die ohne Rücksicht auf Mensch und Natur ihren eigenen hauptsächlich finanziellen Vorteil suchen. Kurzfristiges Denken an der Börse und in der Politik schürt dieses Gefühl des Ausgeliefertseins. Die Angst vor dem morgigen, aber insbesondere übermorgigen Tag, vor den unkontrollierten Veränderungen macht den Menschen abhängig und unfrei. Unbekanntes in Religion und Sprache wird nicht mehr als Bereicherung verarbeitet. Und das ist der wirkliche Nährboden für die neue Rechte auch in unserem Land.

Wir müssen uns befreien von der Angst und Unsicherheit. So wie die Aufklärer im 18. Jahrhundert die bürgerlichen Revolutionen vorbereitet haben.

Die Schweiz ist ein reiches Land, und das verdanken wir allen Wirtschaftsakteuren, auch der Arbeitnehmerin und dem Arbeitnehmer. Und nur eine gelebte Sozialpartnerschaft – wie sie vor 76 Jahren in der Uhrenindustrie begründet wurde, garantiert den sozialen Frieden. Die Rechte der Arbeitnehmenden dürfen nicht geschmälert werden und mit griffigen flankierenden Massnahmen muss sichergestellt werden, dass durch die Personenfreizügigkeit niemand in unserem Land benachteiligt wird.

Dieser Frieden wird aber gewaltig gestört durch die Tatsache, dass die Kluft zwischen Arm und Reich auch in unserem Land immer grösser wird. 2 Prozent der Schweizer Bevölkerung besitzen mehr als die restlichen 98 Prozent zusammen.

Nicht nur der Reichtum, auch die Armut ist vererblich. Wie Studien belegen, sind die Bildungschancen wieder mehr von der sozialen Stellung der Eltern abhängig. Die Stipendien wurden gekürzt und das nagt an der Chancengleichheit und gleichzeitig am Kern unserer demokratischen Gesellschaft.

Wir brauchen mehr Gerechtigkeit durch die Banken. Die Weissgeldstrategie muss mit aller Konsequenz durchgesetzt werden. Das bedeutet aber, dass wir mit der Vergangenheit aufräumen – und für die Zukunft die Steueroasen auf der ganzen Welt und insbesondere in der Schweiz trockenlegen. Und die Schweiz tut gut daran, noch in letzter Sekunde die Daten der Steuersünder den betrogenen Staaten automatisch zu liefern.

Aber auch das Klima in der Ausländerfrage hat sich negativ verändert. Jetzt sind sogar unsere deutschen Nachbarn zur Zielscheibe von stupiden Angriffen geworden.

Die Schweiz kann aber ohne einen jährlichen Immigrationsüberschuss von 20‘000 bis 30‘000 Menschen nicht überleben. Die demografische Alterung führt zu einer starken Belastung der öffentlichen Haushalte wegen der Altersfürsorge, der Gesundheit und der Langzeitpflege. Ohne junge Menschen aus dem Ausland würde der Anteil der Bevölkerung im erwerbsfähigen Alter im Jahre 2060 gleich gross sein, wie der Anteil der Bevölkerung im Rentenalter.

Die Immigration wird also zur Schicksalsfrage unserer Gesellschaft. Deshalb ist die Integration – mit Fordern und Fördern, dringend an die Hand zu nehmen. Ohne Tabu und Scheuklappen. Dabei müssen wir halt auch Konzessionen machen – und unsere Bundesrätin bei ihrer schweren Arbeit zum Beispiel im Asylwesen nicht unnötig erschweren. Ich jedenfalls werde mich nicht aktiv gegen das Asylgesetz einsetzen. Dieses Referendum wird uns bei den aktuellen Asylgesetzesrevisionen nicht dienlich sein.

Mehr Lohngerechtigkeit: Leider hat sich auch die Lohnschere in den in den letzten Jahren erheblich geöffnet. Die vierzigtausend Bestverdienenden haben real über 20 Prozent zugelegt, während bei den tiefen und mittleren Löhnen der Realzuwachs lediglich mickrige 2 bis 4 Prozent ausmachte. Erschwerend kommt dazu, dass die Auslagen für die Krankenkasse und das Wohnen rasant gestiegen sind.

Es braucht den Schutz der Erwerbstätigen durch Mindestlöhne. Ich unterstütze diese Initiative, weil der darin geforderte gesetzliche Mindestlohn von 22 Franken pro Stunde, bzw von 4000 Franken pro Monat einerseits ein wirkungsvoller Beitrag gegen das Lohndumping ist und andererseits verhindern soll, dass Menschen, die voll arbeiten, zu wenig verdienen, um zu leben. Tiefstlöhne verletzen die Menschenwürde: wer Vollzeit arbeitet, soll von diesem Einkommen auch anständig leben können.

Mehr als 450‘000 Angestellte in unserem Land verdienen weniger als 4000 Franken im Monat. Das dramatischste ist, dass auch über 140‘000 Menschen in unserem Land unter 4000 Franken verdienen, die einen Lehrabschluss gemacht haben. Diese Tatsache ist erschütternd, weil auch ich immer gesagt habe, dass wenn Du eine Lehre gemacht hast, Du gut durchs Leben kommst. Insgesamt haben die Personen mit einem Lehrabschluss in den letzten 10 Jahren sogar Lohneinbussen in der Höhe von nominal 0,4% in Kauf nehmen müssen. Eine Berufslehre garantiert also längst kein sorgenfreies Leben mehr. Viele junge Menschen verzichten deshalb auch auf die Gründung einer Familie, weil sie sich berechtigte Sorgen um ihre Finanzierung machen.

Auch die Gleichstellung von Mann und Frau ist immer noch nicht hergestellt; nach wie vor verdienen die Frauen für die gleiche Arbeit nicht denselben Lohn wie wir Männer. Und wir müssen eine Offensive starten, dass die berufstätige Frau durch ihre Aufgabe als und Mutter nicht benachteiligt wird. Das familienergänzende Angebot ist auszubauen – auch nach der enttäuschenden Abstimmung über den Familienartikel, und wir Männer müssen unsere Rolle als Väter neu definieren.

Mehr Rentengerechtigkeit: In der Bundesverfassung steht, dass die Renten aus AHV und der Pensionskasse so hoch sein sollten, dass die gewohnte Lebenshaltung auch im Alter weitergeführt werden kann. Dieses Versprechen ist bis heute nicht vollständig eingelöst worden. Im Gegenteil – wegen der demografischen Entwicklung und der schlechten Ertragslage des Kapitals besteht die Gefahr, dass die Renten gekürzt werden.

Da muss gehandelt werden. Neue Finanzierungsquellen müssen erschlossen und die massive Umverteilung von unten nach oben muss gestoppt werden.

Wir diskutieren im Parlament die Kürzung der Renten, zum Beispiel durch die Senkung des Umwandlungssatzes. Das können wir nicht tatenlos hinnehmen, auch wenn es Korrekturen braucht. Als Gegenmassnahme unterstütze ich deshalb die Initiative der Gewerkschaften, mit welcher verlangt wird, dass auf die AHV-Renten ein Zuschlag von 10 Prozent bezahlt wird. Eine Finanzierungsquelle könnte die Erbschaftssteuer für Erbschaften über 2 Millionen Franken sein. Eine andere ist natürlich der Kampf gegen Steuerhinterziehung, durch SchweizerInnen genau gleich wie durch Ausländer, die ihre Staaten mit Hilfe von Schweizer Banken bescheissen.

Nein zur Volkswahl des Bundesrates:Ihr erlaubt mir, dass ich mich noch kurz zur bevorstehenden Abstimmung über die SVP-Initiative für die Volkswahl des Bundesrates äussere. Ich nehme diese ernst. Und ich fordere Euch alle auf, diese auch ernst zu nehmen. Sie kommt mit den Schlagworten „mehr Vertrauen und mehr Demokratie“ sehr sympathisch daher. Ist es aber nicht.

Wir haben in der Schweiz eine stabile Regierung, in der alle bedeutenden politischen Kräfte, die Sprechregionen, die Generationen und die Geschlechter angemessen vertreten sind.

Der Bundesrat wird von der Vereinigten Bundesversammlung gewählt. Und das hat sich bewährt.

Drei Gründe füge ich an, welche gegen diese Initiative sprechen:

  1. Sie schwächt den National- und Ständerat, wenn die ParlamentarierInnen das Wahlrecht über den Bundesrat verlieren sollten. Das Parlament kennt die Menschen, die sie in unsere Regierung wählen, aus jahrlanger, parlamentarischer Zusammenarbeit. Das würde zu einer Veränderung des Gleichgewichtes führen. In keinem anderen demokratischen Land hat man dem Parlament das Recht entzogen, die Minister zu bestimmen.
  2. Die Initiative würde den Bundesrat destabilisieren: Unsere Bundesräte würden in eine grosse Abhängigkeit von den Parteien (und deren Finanzkraft!) geraten, sie würden zu Wahlkampflokomotiven degradiert, müssten ständig auf ihre Wiederwahlen schielen. Das in Artikel 177 der Bundesverfassung festgeschriebene Kollegialitätsprinzip würde in Frage gestellt, weil eine Volkswahl das Einzelkämpfertum massiv stärken würde.
  3. Die Initiative verkompliziert das Wahlverfahren; die heterogene Schweiz würde zu einem einzigen und unübersichtlichen Wahlkreis. Die lateinische Schweiz wäre stark benachteiligt und die heute historisch gewachsene Konkordanz würde geopfert.

Nota bene: Die gleichen Kreise, welche die Volkswahl der Bundesrats verlangen, weigern sich, dafür zu sorgen, dass die Finanzierung von Wahl- und Abstimmungskämpfen offen gelegt wird. Die SP will unter keinen Umständen, dass künftig noch vermehrt das Geld unser politisches System regiert. Schon bei den letzten Parlamentswahlen wurden sagenhafte Geldmittel eingesetzt. Die Volkswahl würde dieses undemokratische Treiben noch auf die Spitze treiben.

Wir haben in der Schweiz die Trümpfe in der Hand. Spielen wir diese aus für mehr Gerechtigkeit: für internationale Gerechtigkeit und Solidarität. Für mehr Gerechtigkeit beim Lohn und bei der Rente. Es lohnt sich und macht Spass. Es lebe der Tag der Arbeit, es lebe der 1. Mai.

01. Mai 2013