Rede zum 1. Mai 2014 in Chur (GR)

Geschätzte Churerinnen und Churer

Liebe Genossinnen und Genossen, liebe Kolleginnen und Kollegen 

Ich möchte euch zu Beginn eine Geschichte erzählen, die ich vor kurzem erlebt habe und die mir sehr nahe gegangen ist. Sie handelt vom siebzehnjährigen Arlind Lokaj, ein im Tessin geborener Jugendlicher ohne Schweizer Pass, der die Schweiz verlassen muss. Sein kosovarischer Vater hat ihn im Alter von vier Jahren nach der Trennung der Eltern in den Kosovo gebracht und ihm den Kontakt zu seiner Mutter – ebenfalls Kosovarin – verboten. Als Arlind 13 Jahre alt wurde, hat ihn der Vater wieder zurück zu seiner Mutter in die Schweiz geschickt, weil er ihn nicht mehr wollte. Die Mutter hatte zwar das Sorgerecht, aber bleiben darf Arlind nicht, weil eine Familienzusammenführung nur vom Ausland aus möglich ist und Arlind bereits in der Schweiz war. Deshalb muss Arlind wieder zurück in den Kosovo – wohin, weiss er selber nicht, da sein Vater ihn nicht mehr will. Der Lega-Justizminister Norman Gobbi begründet die Ausschaffung insbesondere auch mit der grossen Zustimmung zur Masseneinwanderungs-Initiative im Tessin. 

Arlinds Familiengeschichte ist traurig und tragisch, seine Ausschaffung aber ist ein Skandal. 

Ähnliche Geschichten gibt es unzählige in der Schweiz – und es werden immer mehr. Es sind Geschichten, die von Fremdenfeindlichkeit, Misstrauen und Abgrenzung erzählen. Seit Jahren schafft es die SVP, für alle gesellschaftlichen und wirtschaftlichen Herausforderungen den Ausländerinnen und Ausländer die Schuld zuzuschieben. Sie seien verantwortlich, wenn jemand im vollen Zug stehen muss, wenn die Mieten steigen und oder jemand arbeitslos wird. Die SVP spielt dabei ein unehrliches und scheinheiliges Spiel: Vordergründig will sie die Schweiz gegen aussen schützen und hetzt dafür mit einer Sündenbockpolitik gegen Migrantinnen und Migranten. Gleichzeitig macht sie aber eine Politik im Interesse von Unternehmen, die den europäischen Arbeitsmarkt zur Profitsteigerung nutzen und günstige Arbeitskräfte gegen einheimische ausspielen.

Leider verfolgen sie mit dieser perfiden Politik ein klares Ziel: Sie wollen eine Diskussion darüber verhindern, warum sich ein paar wenige immer mehr bereichern können auf Kosten von allen anderen, die steigende Krankenkassenprämien und Mieten in Kauf nehmen, prekäre Arbeitsbedingungen akzeptieren und die Kosten der Steuergeschenke tragen müssen. Sie wollen mit allen Mitteln verhindern, dass über soziale Ungleichheit und Verteilungsgerechtigkeit gesprochen wird. Dieses Spiel ist nicht neu: So haben immer alle Mächtigen auf der Welt reagiert. Um ihre eigenen Interessen und ihr undemokratisches Gebaren zu verstecken, brauchen sie einen Sündenbock für das Volk –  und wählen dabei immer die Schwächsten aus: Invalide, Arbeitslose, Ausländerinnen und Ausländer, Flüchtlinge. 

Es liegt deshalb an uns Linken, dass wir nicht schweigen, sondern ihr scheinheiliges Spiel aufdecken, die wachsende Ungleichheit aufzeigen und Gerechtigkeit einfordern! 

Ganz aktuell können wir das mit einem Ja zur Mindestlohn-Initiative tun. Während ein paar Wenige Millionen verdienen, erhalten 330'000 Menschen weniger als 22 Franken pro Stunde. Diese Menschen arbeiten hart und können von ihrem Lohn trotzdem kaum leben. Ein Mindestlohn von 4000 Franken erlaubt kein Leben in Luxus. Aber er ermöglicht für die Betroffenen ein Leben mit weniger Angst vor der nächsten Rechnung. 

Auch hier spielen die Bürgerlichen ein scheinheiliges Spiel: Dieselben Herren und Damen, die Millionen-Boni für Manager verteidigen, behaupten nun, dass die Schweizer Wirtschaft einen Mindestlohn von 4000 Franken nicht vermag und viele Menschen arbeitslos werden würden, weil es sich nicht mehr lohnen würde, sie einzustellen.

Diese arrogante Haltung zeugt nicht nur von Verachtung gegenüber der geleisteten Arbeit der Menschen, sondern ist auch volkswirtschaftlich falsch: Die TiefstlohnbezügerInnen werden ihren Mehrverdienst im Alltag ausgeben. Dieses Geld fliesst zurück in die Wirtschaft und stärkt Arbeitsplätze, im Interesse von uns allen.  

Es sind auch dieselben Herren und Damen, die immer gegen den Sozialstaat wettern, die nun fordern, dass die Sozialhilfe dort einspringen muss, wo der Lohn nicht zum Leben reicht. So werden Unternehmen, die unanständig tiefe Löhne zahlen und deswegen Preise drücken können, mit Steuergeldern subventioniert! Mit der Mindestlohn-Initiative können wir dieses schädliche Gebaren stoppen, denn sie stärkt die zahlreichen Unternehmen, die bereits heute anständige Löhne zahlen. 

Und zu guter Letzt rechtfertigen die bürgerlichen Herren und Damen die Tiefstlöhne mit einem Familienbild aus dem vorletzten Jahrhundert. Sie behaupten, dass es vielfach Zweitverdienerinnen seien, die so wenig verdienen und es deswegen ja nicht so schlimm sei. Richtig ist: 70 Prozent der Betroffenen sind Frauen. Die Ausrede der Gegner ist aber nicht nur ein Hohn gegenüber der Arbeit, sondern ein frontaler Angriff auf die Errungenschaften der Gleichberechtigung, die fortschrittliche Frauen und Männer erkämpft haben. Frauen sind nicht ein Anhängsel des Mannes, sondern haben ebenso ein Recht auf anständige, gleiche Entlöhnung! Ein Ja zur Mindestlohn-Initiative ist ein wichtiger Schritt in Richtung mehr Lohngleichheit zwischen Frau und Mann und für eine Politik des 21. Jahrhunderts!  

Wir leben heute in einem Land der Milliarden-Vermögen und Millionen-Löhne für ein paar wenige. Niemand kann ernsthaft behaupten, dass es unsere Wirtschaft nicht vermag, allen Arbeitnehmenden einen Mindestlohn von 4000 Franken zu bezahlen.

Geschätzte Anwesende – wir sind nicht naiv, ein Ja zur Mindestlohn-Initiative ist ein wichtiger, aber längst nicht der einzige Schritt für mehr Verteilungsgerechtigkeit. Viele weitere müssen folgen. Als Ärztin erzählen mir zum Beispiel viele Menschen ihre Sorgen vor den steigenden Krankenkassenprämien oder hohen Arztkosten. Ein paar wenige verdienen mit Krankheiten und den Ängsten der Menschen Millionen. Gesunde werden gegen Kranke, Junge gegen Alte ausgespielt, Solidarität ist je länger je mehr ein Fremdwort im Gesundheitswesen. Auch hier gibt es mit der Initiative für eine öffentliche Krankenkasse eine Alternative, die gerecht, einfach und günstig ist. 

Mit der Mindestlohn-Initiative oder der Initiative für eine öffentliche Krankenkasse liegen zwei aktuelle, wichtige und konkrete Projekte vor, für die wir mit aller Kraft gemeinsam einstehen müssen. Sie sind Teil einer Politik, die eine andere Geschichte erzählen will als die bürgerliche Geschichte von Fremdenhass, Misstrauen und Abgrenzung, in der Menschen wie Arlind diskriminiert werden und in der mit den Ängsten der Menschen ein perfides Spiel gespielt wird. Unsere Geschichte ist eine Geschichte über Gerechtigkeit, Solidarität und Demokratie, in der die Menschen wissen, dass wir gemeinsam mehr erreichen können als alleine und dass uns Freiheit, Offenheit und Gleichheit weiter bringen als Angst, Ausgrenzung und Ungleichheit.

Ich habe meine Rede mit der Geschichte von Arlinds Ausschaffung begonnen. Ich möchte sie auch damit beenden. Es reicht nicht, wenn wir uns über solche Geschichten nur empören, es braucht auch unser Engagement. Deshalb demonstrierten in Bellinzona über 500 Menschen dafür, dass Arlind hier bleiben darf und Politiker aus SP, CVP, Liberalen und Grünen fordern gemeinsam via Parlament ein Bleiberecht für ihn. Arlinds Geschichte zeigt mir eines:

Gemeinsam können wir mit unserem Engagement, unserem Mut und unserer Stärke die Welt zu einem Ort für alle statt für wenige machen. Egal ob in Bellinzona, hier in Chur oder anderswo: Gemeinsam kämpfen wir dafür, dass unsere Geschichte von Demokratie, Solidarität und Gleichheit die Zukunft prägen wird. 

01. Mai 2014