Rede zum 1. Mai 2014 in Baden (AG), Dornach (SO) und Altdorf (UR)

Als Nationalrat lese ich unzählige Dokumente. So habe ich als Mitglied der Geschäftsprüfungskommission des Nationalrates letzthin den Jahresbericht der Nationalbank gelesen, weil ein Gespräch mit den Verantwortlichen der Nationalbank dazu vor mir lag. In diesem Bericht habe ich etwas entdeckt, was ich nicht gewusst habe. Ich habe mir bis zu diesem Zeitpunkt auch nie Gedanken darüber gemacht. Dort ist festgehalten, dass in der Schweiz im Vergleich mit anderen Staaten nach wie vor sehr viel Bargeld im Umlauf ist. Es ist aber nicht so, dass vor allem 10er, 20er, 50er oder 100er Noten im Umlauf sind. Nein, am meisten Bargeld wird in 1000er Noten im Umlauf gehalten.

Ich habe mir dann überlegt, wann ich das letzte Mal eine 1000er Note in den Händen gehabt hatte. Ich kann mich nicht daran erinnern. Wahrscheinlich geht das euch auch so. Die Frage darf also gestellt werden: Wo und wer braucht 1000er Noten in Zeiten des bargeldlosen Zahlungsverkehrs? Die meisten von uns werden doch heute bei grösseren Zahlungen diese bargeldlos über die Banken abwickeln.

Obwohl diese Fragen nur ausweichend von den Verantwortlichen beantwortet wurden, stelle ich fest, dass viele europäische Staaten die grössten Noten im Bargeldzahlungsverkehr in den letzten Jahren abgeschafft haben, um den Umlauf von Schwarzgeld zu erschweren und einzudämmen. Warum wird das in der Schweiz nicht gemacht?

Ich bleibe bei den 1000er Noten. Vier solche Noten soll eine Schuhverkäuferin oder eine Mitarbeiterin in einem Callcenter in Zukunft garantiert verdienen, wenn sie 100 Prozent pro Woche in einem Geschäft arbeitet. Ist das wirklich zu viel – wie das die Gegner der Mindestlohninitiative immer behaupten?

Schauen wir dazu einmal zurück. 1998 startete der Schweizerische Gewerkschaftsbund seine Kampagne „Keine Löhne unter 3000 Franken„. Sie war erfolgreich. In verschiedenen Branchen mit vielen prekären Stellen gelang es, die Mindestlöhne überdurchschnittlich anzuheben. Zugleich war die Mindestlohnkampagne in den letzten sechzehn Jahren der wirksamste Beitrag zur noch immer nicht realisierten Lohngleichheit zwischen Frauen und Männern. Wir dürfen durchaus stolz sein auf das, was wir in diesen Jahren erreicht haben. Aber ausradiert haben wir die Hungerlöhne noch nicht.

Die Entwicklung ist in den letzten Jahren ins Stocken geraten. Vor wenigen Tagen konnten wir in allen Zeitungen lesen, dass die Lohnstrukturstatistik des Bundesamtes für Statistik aufzeigt, dass die Löhne der Geringverdienerinnen in den letzten Jahren gesunken sind. Ich verwende bewusst die weibliche Form, weil die Löhne von Frauen davon vor allem betroffen sind. Die 10 Prozent am schlechtesten bezahlten Arbeitnehmerinnen verdienten 2010 noch weniger als 3935 Franken. Zwei Jahre später lag der Wert von diesen 10 Prozent bei weniger als 3886 Franken. Durchschnittlich macht das für diese Frauen der untersten 10 Prozent der Lohnskala pro Monat 286 Franken weniger Verdienst innerhalb von drei Jahren. Das ist nicht nur ein Skandal, das ist eine Frechheit. In Zeiten in denen die Löhne im Durchschnitt um 3,2 Prozent gestiegen sind, sanken die Löhne für die untersten Einkommen. Wie soll eine alleinerziehende Mutter, die in einem Schuhgeschäft arbeitet, mit einem so tiefen Lohn in der reichen Schweiz überhaupt überleben?

Es ist einfach so: Jeder anständige Lohn bedeutet weniger nachträgliches Flicken durch Staat und Sozialversicherungen. Jeder anständige Lohn packt das Übel Armut an der Wurzel. Und vor allem: Er verleiht den Betroffenen nicht nur eine gewisse materielle Sicherheit sondern auch Würde und Wertschätzung. Und was immer wieder von den Gegnern verdrängt wird: Jeder anständige Lohn stärkt die Wirtschaft, also auch die Arbeitsplätze.

Einmal mehr stehen wir Arbeiterinnen und Arbeiter heute am 1. Mai hier und zeigen der Mehrheit der Bevölkerung,  dass wir  keine Löhne unter 4000 Franken mehr akzeptieren. Wir zeigen das nicht nur. Wir haben es in der Hand. Der Schlussspurt für die Mindestlohninitiative ist voll im Gang. In weniger als drei Wochen können wir in diesem Land die Geschichte prägen. Wir lassen nicht nach und kämpfen um jede Stimme für einen fairen Lohn in einem starken Land.

Seit dem 9. Februar ist die Schweiz nicht mehr die gleiche. Dieser Tag war für uns ein rabenschwarzer Tag. Für uns ist aber klar: Die Schweiz ist keine Insel: unser Erfolg und unsere Lebensqualität sind sowohl vom Austausch mit den Ländern der EU als auch von den vielen Menschen mit Migrationshintergrund in unserem Land abhängig.

  • Darum wehren wir uns mit aller Kraft, dass wieder ein Saisonnierstatut aus der Schublade geholt wird und die Schweiz wieder zur Barackenschweiz wird.
  • Darum wehren wir uns, dass Menschen hier über längere Zeit arbeiten, ohne dass sie ihre Familien mitnehmen können. Das Recht auf Familie ist in der Schweiz für alle umzusetzen.
  • Darum wehren wir uns, dass eine Zweiklassengesellschaft geschaffen wird. Das schaffen wir mit dem Kampf gegen Dumpinglöhne.

Wir sind in der Schweiz lebende Europäerinnen und Europäer. Wer dies abstreitet oder ausblendet, spielt mit den moralischen Grundlagen und dem Wohlstand in unserem Land und streut den Menschen Sand in die Augen.

Eine grosse Herausforderung wird die bevorstehende Reform der Altersversorgung, die der Bundesrat in einer Gesamtschau angestossen hat. Es ist richtig, dass das komplexe System als Paket reformiert werden soll. Nur so ist eine ausgewogene Reform möglich. Wenn einzelne Elemente herausgebrochen werden, besteht die Gefahr, dass die Sonderinteressen einiger Weniger zuungunsten aller bevorzugt werden.

Klar ist heute schon, dass das Volk am Schluss die Altersreform 2020 beurteilen wird. Wenn eine Mehrheit dieses Reformpaket unterstützen soll, dann sind folgende 3 Punkte zu beachten:

  • Eine Anhebung des ordentlichen Rentenalters für Frauen auf 65 muss mit der Lohngleichheit gekoppelt sein. Ansonsten setzt sich die wirtschaftliche Ungleichheit mit tieferen Renten nahtlos fort.
  • Beim Umwandlungssatz muss der Bundesrat nochmals über die Bücher. Nachdem das Volk 2010 eine Senkung von 6,8% auf 6,4% mit über 70 Prozent der Stimmen bachab schickte, wird die Mehrheit ganz gewiss nicht auf eine Senkung im doppelten Umfang eintreten.
  • Die erste Säule muss gestärkt werden, damit die AHV mit den Löhnen Schritt halten kann. In kurzer Zeit sind die Unterschriften zur AHVplus-Initiative gesammelt worden. Die Initiative ist eingereicht. Wir werden in wenigen Jahren über eine Stärkung der AHV entscheiden können.

Ich rufe in Erinnerung, was die Bundesverfassung vorschreibt: Dass es Personen, die in Rente gehen, möglich sein soll, ihren vorherigen Lebensstandard in angemessener Weise weiterzuführen. Um dies zu garantieren und die Ziele der Reform zu erreichen, ist eine Stärkung und Aufwertung der AHV notwendig. Die AHV geniesst eine so breite Unterstützung in der Bevölkerung wie keine andere Sozialversicherung. Sie muss deshalb solidarischer und stärker auf mittlere und kleinere Einkommen ausgerichtet werden, damit Solidarität und soziale Gerechtigkeit gültige Werte bleiben. 

Auf der ganzen Welt wird der 1. Mai gefeiert. Wir feiern heute den Tag in der Schweiz zum 124. Mal. Nach dem Feiern geht uns aber die Arbeit nicht aus. Wir sind es, die einstehen für Fairness, Gerechtigkeit, Solidarität, gute Arbeitsbedingungen, Rechte am Arbeitsplatz und Menschenrechte. Diese Werte sind in der globalisierten Welt wichtiger denn je.

Darum rufe ich euch auf, am Tag der Arbeit unsere Bewegung zu leben und mit vollem Einsatz in den nächsten Tagen für ein JA zur Mindestlohn-Initiative in eurem Umfeld zu werben. 

01. Mai 2014