Rede zum 1. Mai 2014 in Solothurn

Geschätzte Kolleginnen und Kollegen, Genossinnen und Genossen

Die Reallöhne unter 3‘886 Franken wurden in den Jahren 2010 bis 2012 um 286 Franken pro Jahr gesenkt. Damit wurden ausgerechnet diejenigen 10 Prozent der Arbeitnehmenden getroffen, die bereits heute die tiefsten Löhne erhalten. Viele von ihnen haben naheliegender Weise bereits heute arge Probleme, über die Runden zu kommen. Dies zeigt die anfangs Woche veröffentlichte Lohnstrukturerhebung des Bundes. Das ist skandalös. Doch wo blieb der Aufschrei? Betroffen sind Berufsleute in Branchen ohne Gesamtarbeitsverträge (Detailhändler ohne GAV, Gartenbau, Callcenter u.a.). Bei den Kleider- und Schuhgeschäften beispielsweise haben Bund und Kantone Lohndumping nachgewiesen. Doch die Verbandspräsidenten dieser oft schwerreichen Detailhändler weigern sich, GAV mit schützenden Mindestlöhnen abzuschliessen.

Die Selbstbediener

Umso stossender ist diese Entwicklung vor dem Hintergrund steigender Toplöhne. Die Reallöhne der obersten 10 Prozent der Arbeitnehmenden legten in der gleichen Zeitspanne erneut zu, und zwar um satte 7,1 Prozent (das sind im Durchschnitt 9‘901 Franken pro Jahr, also knapp 10‘000 Franken). Damit hat sich die ungleiche Lohnverteilung in der Schweiz weiter verschärft; eine Entwicklung, die bereits in den letzten 15 Jahren nachweisbar festzustellen ist. Diejenigen, welche hohe Löhne haben, erhalten noch mehr. Wer hingegen mit dem Lohn kaum über die Runden kommt, hat weniger.

Auf dieses Problem haben wir eine Antwort, die sich auch im Motto der diesjährigen 1.-Mai-Veranstaltungen zum Ausdruck bringt: Gute Arbeit. Mindestlohn!

Die politische Umsetzung dazu: Die Mindestlohninitiative

In Rekordzeit hatten wir gemeinsam für die Mindestlohninitiative Unterschriften gesammelt. Wir alle erlebten bei den Gesprächen auf der Strasse, dass es kaum einen Bewohner oder eine Bewohnerin in diesem Land gibt, der oder die es vertretbar findet, dass heute rund 330‘000 Menschen von einem Monatslohn unter 4‘000 Franken leben müssen. Dies ist ein Lohn, der die meisten Betroffenen zwingt, einen Zweit- oder Drittjob anzunehmen, um allen Verpflichtungen nachkommen zu können. Viele davon müssen trotz voller Erwerbstätigkeit den Gang auf das Sozialamt unter die Füsse nehmen.

Die Betroffenen

Noch immer sind weitgehend Frauen davon betroffen (70 Prozent), gut drei Viertel sind nicht mehr Jugendliche, sondern Menschen im Alter von 25 Jahren oder älter und ein Drittel von allen Tiefstlohn-Betroffenen hat erfolgreich eine Lehre absolviert. 9 Prozent, also knapp jeder zehnte Beschäftigte in unserem Lande, verdient weniger als 4‘000 Franken im Monat. Kolleginnen und Kollegen, die Mindestlohninitiative verlangt deshalb einen gesetzlichen Stundenlohn von 22 Franken. Dies soll ein Mindestmass an Würde für jeden Beschäftigten sicherstellen, dies ist bezahlbar, dies entlastet die Sozialhilfe, dies generiert mehr AHV-Beiträge, … und dies macht unsere Welt ein wenig gerechter.

Die Verteilung

Bedenken wir: Menschen, deren Lohn von 3‘750 auf 4‘000 Franken pro Monat erhöht wird, werden dieses Geld sofort wieder in Umlauf setzen, ja setzen müssen. Dieser Konsum schafft wiederum neue Arbeitsplätze. Jemand, dessen Monatslohn von 9'000 auf 9‘250 Franken erhöht wird, steigert dadurch in der Regel nur seine Sparquote. Die fetten Ersparnisse einiger wenigen müssen nicht weiter wachsen, es gilt, Menschen ein selbständiges Leben zu ermöglichen und von der eigenen Arbeit leben zu können. Diesen Respekt dürfen, ja müssen und können wir uns als Gesellschaft leisten. Die gesamte Lohnsumme müsste um nur gerade 0,4 Prozent angehoben werden. Das Geld ist vorhanden – wie der starke Anstieg der Toplöhne zeigt.

Die Sozialpartnerschaften

Nie in meinem Leben hörte ich derart viel Hohelieder auf funktionierende Sozialpartnerschaften wie bei der Debatte zu dieser Initiative im Nationalrat. Unternehmer lobten die Verhandlungskultur mit den Gewerkschaften. Bei näherem Hinsehen zeigte sich aber: Diejenigen Parlamentarier und Patrons, welche diese Werte am lautesten lobten, hatten Betriebe, in welchen sie den Gewerkschaften die Verhandlung zu Gesamtarbeitsverträgen verweigerten.

Sozialpartnerschaften im Stresstest

Diese Tage stehe ich als Zentralsekretär des SEV, der Gewerkschaft des Verkehrspersonals, in GAV-Verhandlungen mit der SBB und der Swiss. Die Verhandlungsprozesse sind schwierig und mühsam. Kaum wären bereits heute Wetten darauf zu schliessen, dass es zu vernünftigen Abschlüssen kommen wird. Noch sind sich viele Arbeitgeber nicht bewusst, dass ihr Verhalten den langjährigen sozialen Frieden in unserem Land ernsthaft gefährdet. Und dieser ist eine entscheidende Grundlage unseres Wohlstandes.

Gesellschaftliche Risiken

Mit neu erzeugten sozialen Spannungen zu spielen birgt ein Risiko, dass wohl nur noch von Atomkraftwerken übertroffen werden kann. Kolleginnen und Kollegen, schaut, dass auch unsere Nachbarn und Freunde nicht vor der Angstkampagne der ideologisch gesteuerten neoliberalen Fundis einknicken, sondern selbstbewusst ein JA für einen Mindestlohn, der Förderung der Sozialpartnerschaft und damit einer Sicherung von Arbeitsplätzen beitragen.

Die Vision

Die Mindestlohninitiative ist ein Puzzlestück in der Vision für eine gerechtere Schweiz. Ja, einige Puzzlestück haben wir gewonnen, andere verloren, die meisten kommen erst noch vor das Volk: Kolleginnen und Kollegen, es ist wichtig, dass wir gemeinsam mit allen fortschrittlichen Kräften aus allen gesellschaftlichen, kirchlichen und politischen Kreisen uns zusammen tun und uns einsetzen, dass unsere Vision Gestalt annimmt. Die Projekte waren oder sind konkret: Erbschaftssteuer, Pauschalbesteuerung, Bonisteuer, gerechte Steuerbelastung, allgemeinverbindliche Gesamtarbeitsverträge, sinnvolle Unternehmensteuerung, 1:12, verbesserter Arbeitnehmerschutz, angepasste Gewerkschaftsrechte, AHV plus, öffentliche Krankenkasse, Abzockerlimite, Mindestlöhne, Lohngleichheit für Mann und Frau, gesicherte Sozialwerke und Infrastrukturen, sowie verantwortbare Energie- und Umweltpolitik.

Kolleginnen und Kollegen, Gewerkschaften und andere verantwortungsvolle Kreise haben also ganz konkrete Ideen und Projekte, wie unser Land erneuert werden kann.

Kampf vereint

Kämpfen wir mutig, vereint und entschlossen gegen Scheinsicherheit. Sparen wir uns den unseligen Kauf von Kampfflugzeugen, welche selbst auch von Sicherheitsspezialisten als ungeeignet, überteuert und kaum friedenssichernd beurteilt werden. Setzen wir diese Mittel ein für eine gute Versorgung, einen Service Public in allen Lebenssituationen, in Bildung, Gesundheit und soziale Sicherheit – auch bei Krankheit, nach Unfall, im Alter oder im Leben mit Einschränkungen.

Ohne 24-Stundengesellschaft

Wehren wir dem Trend, das ganze Leben „unter Konsum“ zu stellen, die 24 Stunden-Gesellschaft einzuführen, die Sammlung von prekären Arbeitsverhältnissen einzelner zu erzwingen, Strukturen des sozialen Umfeldes und der Familie zu zerstören und die Gesellschaft, durch enorme soziale Unterschiede in eine Neid-, Ellbogen- und Kampfgesellschaft zu mutieren.

Stopp der HESO-Zwängerei

KollegInnen und GenossInnen, es darf nicht sein, das Gewerbetreibende unsere Feiertagsgesetze nach ihrem Gutdünken kreieren und dabei am liebsten willkürlich Einsatz von Arbeitskräften fordern. Die Gewerkschaften kämpften seit Jahren gegen jeden Schritt zur Ausdehnung des schleichenden Konsum- und flexiblen Arbeitszwanges. Ja, erneut müssen wir über ein HESO-Gesetz abstimmen, was das Volk bereits früher verworfen hat.

Erneuerung – auch in der Energiepolitik

Ein Ja zur Umsetzung meines Vorstosses „Erneuerbare Energien in die Kantonsverfassung“, worüber wir ebenfalls am 18. Mai abstimmen, bietet zudem eine Chance, auch nachhaltig mit unseren natürlichen Ressourcen umzugehen.

Nächstenliebe

Kolleginnen und Kollegen, gerade auch als fortschrittliche Kräfte in unserem Lande lieben wir unsere Nächsten. Der Feind kommt nicht durch Zuwanderung in unser Land, der Feind kommt durch Deregulierung, Sozialabbau, soziale Ungleichheit, Lohndumping, Bildungsspanne, Zweiklassenmedizin und Umweltrisiken, durch die Folgen von Angst und Egoismus.

Die Vision, den Traum einer anderen Gesellschaft, kennen wir nicht erst seit Martin Luther King. Konkrete Puzzle-Teile zum Bau eines besseren Diesseits haben wir im Programm. Motivieren, werben, beten und kämpfen wir darum, dass unsere Gesellschaft erneuert wird – nicht nur, aber auch in der Ruhe des Eidgenössischen Buss-, Dank- und Bettages.

Die Linken in der Kirche  

Geschätzte KollegInnen und GenossInnen, dutzende Veranstaltungen finden heute im Freien, in gemeindeeigenen Gebäuden oder in Räumlichkeiten von Kirchen statt. Im Jahre 2008 fiel der 1. Mai just auf den Tag der Auffahrt. Der Appell unseres kantonalen Gewerkschaftsbundes an die Christen lautete, der christlichen Lehre zu folgen. Dies zeigte Wirkung in zwei Richtungen, die auch öffentlich an den 1.-Mai-Umzügen wahrnehmbar waren. Es folgte:

  • eine gemeinsame Proklamation GEGEN jegliche Ausgrenzung, Diskriminierung, Rassismus, Fremdenfeindlichkeit und Aushöhlung der Sozialversicherungen und
  • eine gemeinsame Proklamation FÜR Gerechtigkeit, Einhaltung der Menschenrechte, Bildung und Chancengleichheit, Schutz der ganzen Schöpfung, der Würde und Integration aller Menschen und für die internationale Solidarität. 

Der religiöse Sozialismus als Teil der Linken war und ist ein Resultat der visionären Aufstände, wie sie sich auch in zahlreichen anderen religiösen Bewegungen gegen soziale Ungerechtigkeit, Diskriminierungen und für gerechte Verteilung des Besitzes ausdrücken.

Gemeinsam parteiisch werden  

Immer wieder gelingt es, dass Menschen aus verschiedenen Hintergründen sich zusammenraufen und Partei ergreifen zugunsten von Benachteiligten, Einsamen, Schutzbedürftigen, Lohnabhängigen, Flüchtlingen, Gefangenen, Alleinerziehenden, Ausgestossenen, Kranken, Süchtigen und Suchenden. 

Genossinnen und Genossen, Kolleginnen und Kollegen, die Zeiten sind vorbei, dass sich Menschen mit gleichartigen sozialen Anliegen, wenn auch teilweise aus unterschiedlichen Sichtweisen, bekämpfen oder beschimpfen. 

Zu weit sind Individualisierung und Entsolidarisierung fortgeschritten, dass sich irgendein Verzetteln der Kräfte noch rechtfertigen liesse. Das Diktat der Profitmaximierer, der selbstbedienenden Manager und Ausgrenzer ist zu gross. Auch heute können fortschrittliche Bewegungen nicht im Alleingang die Umgestaltung der Gesellschaft in Angriff nehmen.

Ein Aufruf – auch für heute  

Genossinnen und Genossen, Gewerkschaftskolleginnen und -kollegen, Christinnen, Christen und alle weiteren Mitkämpferinnen und Mitkämpfer: Wir brauchen unseren gemeinsamen 1. Mai; es braucht den kollektiven Kampf aller sozial-fortschrittlichen Kräfte. Nur so kann es uns gelingen unsere Gesellschaft neu zu gestalten und die Zukunft zu erneuern. Das sind wir uns, der gegenwärtigen, aber auch den zukünftigen Generationen schuldig. Jeder Mensch hat Anrecht auf ein Leben in Würde und Respekt! 

Die Zukunft ist erneuerbar! Es lebe die internationale Solidarität. Danke!

01. Mai 2014