Rede zum 1. Mai 2014 in Zürich und Arbon (TG)

Wer dachte, die Geschichte kenne nur eine Richtung, nämlich die des Fortschritts, wird gegenwärtig heftig eines Besseren belehrt. An diesem 1. Mai 2014 müssen wir verteidigen, was wir längst als Errungenschaften der Zivilisation, als Erbe der Aufklärung, betrachteten. Er­laubt mir, das in vier Punkten zusammenzufassen:

  1. Das Asylrecht leitet sich direkt aus den Menschenrechten ab. Seit dem Altertum ist es eine der nobelsten Einrichtungen. Unser Land war lange auf seine humanitäre Tradition stolz. Eine Stadt wie Zürich verdankt den sozialistischen Flüchtlingen aus der deut­schen Revolutionszeit in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, den italienischen Künstlern oder den jüdischen Forschern sehr viel. Es ist richtig und wichtig, gleich zu Beginn daran zu erinnern, und die Anwesenheit von Giacomo Sferlazzo, Künstler und Aktivist aus Lampedusa, ist der beste Beweis dafür. Heute erleben wir in Syrien die schlimmste humanitäre Krise seit dem Zweiten Weltkrieg. Neun Millionen Menschen brauchen dringend Hilfe. Zwei Millionen stehen auf der Strasse. In Lampedusa sind in den letzten Wochen 20'000 Flüchtlinge angekom­men. Ohne nichts. Männer, Frauen und Kinder, von Schleppern dem Meer ausgesetzt.Die Schweiz muss Solidarität zeigen. Für mich eine Selbstverständlichkeit. Aber sie lässt auf sich warten. Schlimmer noch: Gleichzeitig haben in der Schweiz des Henri Dunant, im aargauischen Aarburg, Quartierbewohner ein Grillfest gegen eine geplante Unterkunft für Asylbewerbende organisiert. Die Behörden wollten dort fünfzehn Fami­lien unterbringen. Rund 200 Einheimische haben sich unter dem Motto «Mit Bratwürsten gegen Asylanten» zusammengetan. Sie haben Angst davor, einige syrische Fami­lien aufnehmen zu müssen. Sie kämpfen dagegen, dass ihre Gemeinde diesen Un­glücklichen ein Dach über dem Kopf bietet. Für sie bedeutet humanitäre Tradition ganz offensichtlich nicht, dass man Frauen und Kinder, die Opfer eines Bürgerkriegs sind, beherbergt. Ich frage euch: Gibt es wirklich keinen gesellschaftlichen Rückschritt?
     
  2. Seit siebzig Jahren hat Europa keinen Krieg mehr erlebt. Die Völker unseres Kontinents haben begriffen, dass sie die gleiche Kultur haben, die gleichen Lieder singen, dass sie ähnlich kochen, ihre Freizeit identisch verbringen, dass sie am Abend ihren Kindern dieselben Märchen erzählen. Sie haben ein politisches Projekt begründet, basierend auf den vier Freiheiten der Waren, des Kapitals, der Dienstleistungen und – am wichtigsten – der Arbeitnehmenden (mit dem freien Personenverkehr). 
    Die Schweiz wollte nie an diesem Friedenswerk mitarbeiten. Sie fuhr jahrelang als blinde Passagierin der Europäischen Union mit, nahm deren Errungenschaften an und behielt dabei einen Schein von Autonomie. Schliesslich integrierte sie die Freiheiten der EU über den Umweg der bilateralen Verträge in ihr eigenes Recht.
    Aber die Versuchung, sich abzuschotten, war nie weit. «Das Boot ist voll» liessen die Behörden im Zweiten Weltkrieg dramatisch verlauten. Das hiess: Rückweisung von Tausenden von Flüchtlingen an der Grenze. «Gegen die Überfremdung» lautete die Initiative der Nationalen Aktion von James Schwarzenbach. Sie wurde 1970 von 54 Pro­zent der Stimmenden abgelehnt, nachdem der Bundesrat drastische Massnahmen er­griffen hatte, um die aufgebrachte Bevölkerung zu beruhigen.
    Am 9. Februar allerdings ist ein Damm gebrochen. Nachdem seit den 70er Jahren vergeblich fünf Volksinitiativen lanciert wurden, nachdem im vergangenen Jahrzehnt er­folglos vier Mal die Freizügigkeit und ihre Erweiterung angegriffen wurden, haben die Nationale Aktion und ihre Nachfolger nun - zumindest vorübergehend - ihre Ziele erreicht. Sie haben eine Mehrheit gefunden, um den freien Personenverkehr zu stoppen, um auf Kontingente zurückzugreifen, die man längst im Abfalleimer der Geschichte wähnte.
    Am 9. Februar hat sich in der Schweiz eine Mehrheit gebildet, um in die 70er und 80er Jahre zurückzukehren. Denkt ihr immer noch, dass die Geschichte linear und stets in Richtung Fortschritt verläuft?
     
  3. Der soziale Frieden gilt als einer der Grundwerte der Schweiz. Besonders auf rechter Seite vergisst man jedoch zu oft die Opfer ganzer Generationen, die Opfer unserer Vorgänger, die – namentlich zum Preis eines brutal niedergeschlagenen Generalstreiks – die AHV, die Gleichstellung von Mann und Frau, die Proporzwahl, eine Arbeitszeitverkürzung durchgesetzt haben. Selbst in gutbürgerlichen Kreisen sind sich alle einig, dass man schon sehr borniert sein müsste, um Kinderarbeit zu verteidigen, um eine Regulierung der Arbeitszeit zu verweigern und das Recht auf bezahlten Urlaub zu be­kämpfen. Nun höret sie, all die Bornierten, die vor dem «Abbau Zehntausender von Arbeitsplätzen, einer Explosion der Arbeitslosigkeit, einer ausländischen Bedrohung für die soziale Kultur der Schweiz»  warnen.
    Ihr kennt diese Litanei. Sie wird in unseren bürgerlichen Zeitungen seitenlang ausge­breitet. Es sind die Argumente der Gegner ei­nes Mindestlohns.
    Doch siehe da, das Zitat stammt aus einer Abstimmungskampagne, welche die fortschrittlichen Kräfte knapp mit 51.5 Prozent gewannen – und zwar am… 21. Oktober 1877. So bekämpften damals die Gegner des Fabrikgesetzes die Verkürzung des Normalarbeitstages auf 11 Stunden (10 am Samstag) und das allgemeine Verbot der Kinderarbeit.
    Die gleichen Argumente, die gleichen Erpressungen, der gleiche Druck auf Arbeitnehmende nach 137 Jahren. Wie war das nun mit den berühmten Lektionen der Ge­schichte?
     
  4. Die Streikenden von 1918 haben die moderne Schweiz geschaffen. Zumindest in ihrer sozialen und egalitären Dimension. Und nichts wurde ihnen geschenkt, jeder Fortschritt, selbst die Gleichstellung der Geschlechter und das Frauenstimmrecht, musste über Jahrzehnte erkämpft werden. Wer heute zurückblickt, der sieht, dass «das Thema des verlassenen Herds – mit all seinen Kollateralschäden für das Wohl der Männer und die Erziehung der Kinder – ebenso dazu diente, in den 1930er Jahren den Ausschluss der Frauen aus attraktiven Berufen – Unterricht, Büro – zu fordern (wo männliche Arbeitslose nach ihren Plätzen trachteten), wie ihnen das Stimmrecht bis in die 1960er-Jahre zu verweigern.» 
    Doch auch heute täten wir falsch daran, von einer garantierten Gleichstellung auszugehen. Die Lohndifferenz zwischen Mann und Frau beträgt immer noch knapp 20 Pro­zent. Fast zwei Drittel der pensionierten Frauen haben nur die AHV zum Leben. Schlimmer noch, selbst das Prinzip der Gleichstellung wird von unserer Regierung ausgehöhlt. Wie sonst ist zu erklären, dass der Verteidigungsminister, um den völlig überflüssigen Kauf von 22 Papierfliegern zu rechtfertigen, die Frage stellen darf: «Wie viele Gebrauchtgegenstände, die 30 Jahre alt sind, haben Sie noch zuhause?», um gleich selber darauf zu antworten: «Bei uns sind das nicht mehr viele, ausser natürlich die Frau, die den Haushalt schmeisst.» Das ist nicht allein ein Scherz aus der Mottenkiste, nicht nur das Zeichen, dass es kein Argument mehr gibt, um das Volk vom Kauf eines überflüssigen Flugzeugs zu überzeugen; es ist ein krasser Mangel an Respekt den Frauen gegenüber, eine Weigerung, ihre Emanzipation als zivilisatorische Errun­genschaft zu sehen. Es ist schlicht ein Versuch, das Rad der Geschichte zurückzudre­hen.
    Habt ihr Fortschritt gesagt?

Liebe Genossinnen und Genossen

Was uns bedroht, ist eine rückschrittliche, eine reaktionäre Schweiz. Eine Absage an unsere humanitäre Tradition. Eine selbstmörderische politische Isolation in Europa. Es ist die Rückkehr zum Saisonnierstatut. Es sind Arbeitsbedingungen, die einseitig von Arbeitgebern dik­tiert werden. Es ist eine Renaissance von Machotum und Autoritarismus.

Wir müssen aber mehr tun, als dies nur festzustellen. Denn nur wir, die Kräfte der Linken in Politik, Gewerkschaften und Verbänden haben die Kraft und die Einsicht, die es braucht, um dieser reaktionären Schweiz eine Schweiz der Solidarität, der Gerechtigkeit, eine Schweiz für alle statt für wenige entgegenzusetzen.

Mehr tun heisst, uns rund um ein paar einfache, aber entscheidende Grundsätze zu verbünden:

  1. Die Schweiz gehört zu Europa, die Zukunft des Kontinents betrifft uns. Niemand darf ein Interesse an einem Scheitern der Europäischen Union als politisches Projekt haben. Aber um das Vertrauen der Menschen in Europa zurückzugewinnen, muss die Union ihre Politik ändern. Zehn Jahre Kommission Barroso hinterlassen einen Scherbenhaufen: Die Hälfte der EU-Staaten kämpft mit riesiger Arbeitslosigkeit, Brüssel hat 700 Milliarden Euro zur Bankenrettung aufgeworfen, findet aber nur mickrige 6 Milliar­den, um die Jugendarbeitslosigkeit zu bekämpfen. Europa ist unfähig, eine adäquate Antwort auf die Lage in der Ukraine zu geben. Diese Politik muss ändern. Es braucht neue Mehrheiten. Es braucht die Teilnahme an den Europawahlen, um Europa zu än­dern. Die Linke und die Gewerkschaften engagieren sich in der laufenden Kampagne und fordern alle europäischen Bürgerinnen und Bürger auf, an den Europawahlen vom 25. Mai teilzunehmen.
     
  2. Was auch immer der Bundesrat und die bürgerliche Mehrheit im Parlament beschliessen, niemals werden wir eine Rückkehr zur Schweiz des Saisonnierstatuts akzeptieren. Es kann keine Frage sein, die Möglichkeit des Familiennachzugs für Arbeitnehmende in der Schweiz zu beschränken. Jede diskriminierende Regelung muss mit aller Kraft bekämpft werden. Die Zeit der Baracken ist vorbei. Und wir lassen es nicht zu, dass die so genannt „wirtschaftsfreundlichen“ Rechten und ihre Vasallen im Parlament von der portugiesischen Serviertochter verlangen, dass sie ihr Kind zu Hause lässt, während der Glencore-Trader Frauen und Kinder mit nach Zug nehmen darf. Es gibt keine Aus­länder erster und zweiter Klasse.
     
  3. Der Arbeitnehmerschutz muss verbessert werden. In unmittelbarer Zukunft durch die Einführung des Mindestlohns. Wie kann diese reiche und florierende Schweiz tolerieren, dass eine Schuhverkäuferin nur 3200 Franken für einen Vollzeitjob verdient? Wie kann sie es zulassen, dass sie von Unternehmern, die Vermögen von mehreren Milliar­den anhäufen, so schamlos ausgebeutet wird? Wie kann man akzeptieren, dass diese Unternehmen mit unseren Steuergeldern gesponsert werden? Durch Sozialhilfe, die es braucht, um den Tieflohn zu ergänzen; durch Ergänzungsleistungen, die man morgen wird zahlen müssen, um die miese Rente zu kompensieren; durch Zuschüsse für Wohnungen, Krankenkassen, die Einschulung der Kinder? Während diese Frau zu 100 Prozent arbeitet und einen Grossteil ihrer Zeit hergibt, um ihren Arbeitgeber zufrieden­zustellen.
     
  4. Danach müssen wir den Bundesrat dazu bringen, die flankierenden Massnahmen zu verstärken, zum Beispiel durch eine vereinfachte Ausdehnung der Gesamtarbeitsverträge. Es ist entscheidend, dass die Kontrollen verstärkt werden. Und diese Massnah­men müssen über das reine Arbeitsrecht hinaus auf weitere Bereiche ausgedehnt wer­den, in erster Linie auf Wohnen und Bildung. Wir müssen die Arbeitnehmenden vertei­digen, nicht die Grenzen. Wir müssen dem Missbrauch durch gewisse Arbeitgeber einen Riegel schieben, nicht die ausländischen Angestellten sanktionieren. Aber wir müssen es mit Entschlossenheit tun: Das skandalöse Verhalten einiger Chefs, die ideologische Abschottung der grossen Wirtschaftsverbände, die beängstigende Passivität des Bun­desrates tragen den Keim der Niederlage vom 9. Februar in sich und bilden den Nähr­boden für den triumphierenden Populismus.
     
  5. Wir lassen weder den Gewerbeverband noch die SVP mit ihrem freisinnigen Anhängsel unsere Renten zerstören. Der Bundesrat handelt richtig, wenn er die AHV-Reform und jene der zweiten Säule gleichzeitig behandelt. Er handelt richtig, wenn er die Erhaltung des Rentenniveaus anstrebt. Aber er scheitert an der Umsetzung seiner Versprechen. Die Senkung des Umwandlungssatzes der zweiten Säule auf 6 Prozent; der mögliche Verzicht auf eine Rentenanpassung an die Teuerung und die Lohnentwicklung; die Er­höhung des Rentenalters für Frauen ohne substanziellen Fortschritt in der Gleichstel­lung sind harte Schläge gegen unser solidestes, solidarischstes und gerechtestes Sozialwerk. Wir lassen die Bürgerlichen nicht das Rentenalter erhöhen, auch nicht in Tranchen von einem Monat pro Jahr, wie sie das seit einiger Zeit propagieren.

Aber wir werden nicht nur reagieren, wir handeln auch vorausschauend. In wenigen Mona­ten haben wir die Unterschriften für die Initiative AHVplus zusammengebracht, die das Rentenniveau um 10 Prozent erhöhen will. Ein unerlässlicher Schritt, wenn der Bundesrat die Versprechen halten will, die er gemacht hat. Die Initiative ist eingereicht, bald wird darüber diskutiert. Sie wird alle zukünftigen AHV-Debatten beeinflussen und soll uns ermöglichen, eine bessere Lösung für Arbeitnehmende zu finden als die Pläne des Bundesrates.

Das Niveau der Altersrenten muss verbessert werden. Wer sein ganzes Leben gearbeitet und 5000 Franken verdient hat, erhält gerade mal eine Rente von 3000 Franken. Seine BVG-Rente entspricht einigen hundert Franken. Deshalb braucht es höhere AHV-Renten. Es ist das einzige Mittel, damit die Renten sich parallel zu den Löhnen entwickeln, das einzige Mittel, allen ein Alter in Würde zu garantieren.

Liebe Genossinnen und Genossen

Lassen wir uns nicht täuschen, es geht bei der AHV weder um technische Projekte noch um eine Politik der kleinen Schritte. Es geht um zwei Gesellschaftsmodelle, die sich gegenüberstehen. Es geht um den Kampf zwischen der rückschrittlichen Schweiz, jener der Banken, einer selbsternannten Wirtschaftsaristokratie, der SVP mit ihrer freisinnigen Gefolgschaft und der Schweiz der Solidarität, der Gerechtigkeit, der Freiheit für alle.

Hinter unseren Forderungen für bessere Renten, für höhere Löhne und für mehr Gleichstellung stecken keine Verbandsinteressen, die wir verteidigen: Es geht um ein Lebensmodell. Es geht um eine Gesellschaft des „alle zusammen“  statt einer Gesellschaft des„jeder gegen jeden“ . Es geht um die Überzeugung, dass Offenheit den anderen gegenüber, humanitäre Tradition, geteilte Verantwortung für die Zukunft unseres Kontinenten, die Integration von Menschen jeglicher Herkunft, religiöse und kulturelle Toleranz, dass dies alles den Kern unserer Zivilisation aus­macht. Dass eine westliche Zivilisation, wenn es sie gibt, nicht jene der Kreuzzüge ist, son­dern jene der Aufklärung. Dass eine Schweiz, die sich ihr Schicksal geschmiedet hat, dies nicht auf den Trümmern von Morgarten, sondern in den liberalen Revolutionen von 1848 und den sozialen Kämpfen von 1918 getan hat.

Dieser rückschrittlichen, ja reaktionären, Schweiz, dieser Hydra der Abschottung, der politischen und moralischen Gewalttätigkeit, müssen wir widerstehen. Schritt für Schritt die Er­rungenschaften der letzten Jahrzehnte verteidigen, den Service public, die Gleichstellung von Mann und Frau, die AHV. Und gemeinsam mit wachem Geist und Entschlossenheit für die Fortschritte von morgen kämpfen: Für einen Mindestlohn, für Gleichheit, für eine ökologisch verträgliche Wirtschaftsentwicklung, für die Renten. Für eine Gesellschaft für alle statt für wenige.

01. Mai 2014