Ruedi Noser ist kein Arzt. Zum Glück. Denn Diagnosen zu stellen, ist ganz offensichtlich nicht seine Stärke. Der freisinnige Zürcher Nationalrat sieht das Erfolgsmodell Schweiz in Gefahr. Schuld daran sei die SP mit ihren Forderungen für eine Lohnobergrenze mit der 1:12-Initiative oder für einen gesetzlichen Mindestlohn oder für eine Erbschaftssteuer. Mit diesen Vorschlägen habe die SP «dem Erfolgsmodell Schweiz den Krieg» erklärt. Dieser Krieg könne, so Noser, nur mit einem neuen Wirtschaftsclub gewonnen werden. Der Economiesuisse, die jüngst acht Millionen Franken in die eigene Imagevernichtung gesteckt hat, traut Noser offenbar gar nichts mehr zu. Noser selber will das Gesicht der neuen Vereinigung unter dem Namen SuccèSuisse sein und damit die «verantwortungsbewussten Manager» verkörpern.

Verantwortungsbewusst? Ich mag mich erinnern, dass Noser in der Debatte über die 1:12-Initiative einen Lohn von 500’000 Franken als Trinkgeld bezeichnet hat. Oder sich in weiteren Interviews zur Behauptung hinreissen liess, die 1:12-Initiative würde die Schweiz nach «Nordkorea» oder in den «Kommunismus» führen. Mit solchen Polemiken will Noser das Erfolgsmodell Schweiz retten, wie er das Ziel des neuen Clubs beschrieben hat. Man reibt sich ob dieser abstrusen Therapie die Augen. Und was ist mit den Millionenzahlungen bei Unternehmensverlusten? Oder mit den Steuerreformen, die es möglich machen, dass jemand wie Glasenberg dreistellige Millionenbeträge als Dividenden steuerfrei und an der AHV vorbei in die eigene Tasche stecken kann? Will dieser neue Club SuccèSuisse den Menschen in unserem Land tatsächlich weismachen, dass dieser Neofeudalismus mit dem Erfolgsmodell Schweiz etwas zu tun hat? Manch ein alter Freisinniger dürfte sich im Grab umdrehen und sich fragen, wie es kommen konnte, dass die aktuelle Wirtschaftselite dermassen an gesellschaftlichem Autismus leidet.

Es gab eine Zeit, als auch Freisinnige wussten, dass zu einer freien Gesellschaft auch Gerechtigkeit, Anstand und Masshalten der Elite gehören. Im 19. Jahrhundert kämpften die Väter der heutigen FDP selber gegen eine abgehobene Kaste von reichen Adligen, die dem Volk eine echte Demokratie vorenthalten wollte. Und in den 80ern, als sich die FDP noch nicht durch und durch der US-amerikanisch geprägten «Geld ist Geil»-Ideologie verschrieben hatte, verdienten die Vorgänger der heutigen Manager deutlich unterhalb der heute als «kommunistisch» verunglimpften 1:12-Regel. 1984 lag die Lohnbandbreite zwischen einem Durchschnittslohn und einem Topmanagerlohn im Schnitt noch bei 1:6, 1998 lag sie bei 1:13 bis die Lohnschere dann unter dem Diktat der neoliberalen Ideologie explodierte: Sie liegt heute nach neusten Zahlen beim unvorstellbaren Verhältnis von 1:93!

Nicht wer solches bekämpft, sondern wer solches zulässt, gefährdet das Erfolgsmodell Schweiz. Wer Freiheit will, muss auch Gerechtigkeit gewährleisten. Die Menschen in diesem Land sind zur Recht nicht bereit, täglich mehr zu leisten und dabei zuzuschauen, wie die Früchte ihrer Anstrengungen immer einseitiger verteilt werden. Spätestens bei den Abstimmungen über die Personenfreizügigkeit wird das Volk der Politik die Rote Karte zeigen, wenn sie es nicht vorher versteht, die flankierenden Massnahmen auszubauen. Damit die Menschen in der Schweiz einer Politik der Öffnung weiterhin folgen, müssen deren Vorteile allen und nicht nur ein paar wenigen globalisierten Managern zukommen.

Der Erfolg der Schweiz liegt im Miteinander und nicht im alle gegen alle. Gebaut wurde das Land durch die gemeinsame Arbeit aller: der Pöstler, der Verkäuferinnen, der Künstlerinnen, der Handwerker, der Informatikerinnen, der Väter, der Mütter, der freiwillig Engagierten, der Bäuerinnen, der Ärzte und ja, auch durch viele umsichtige Unternehmer und Manager. Und so zeigt ein vorurteilsfreier Blick: Die 1:12-Initiative wird die Schweiz nicht gefährden, sondern stärken. Denn sie fordert genau das, was unser Land erfolgreich gemacht hat: Anstand statt Gier.

26. Mär 2013