Rückblende auf den Herbst 2008: Die Finanzwelt steht am Abgrund. Die «master of the universe» haben mit ihren wahnwitzigen Casinospekulationen, luschen Finanzprodukten, die sich als warme Luft entpuppten, und Lohnexzessen viele Banken an den Abgrund getrieben. Regierungen auch in Europa und der Schweiz mussten diese Banken mit Steuergeldern vor der bösen Marktwirtschaft retten, weil sonst ein Domino-Effekt die Weltwirtschaft erfasst und flachgelegt hätte. Keine der ach so kompetenten Rating-Agenturen, keiner der ach so gut gebildeten Mainstream-Ökonomen hatte es vorausgesehen. Im Gegenteil.
Um die Banken zu retten, mussten sich viele Staaten massiv verschulden. Auf Kosten der Steuerzahler, auf Kosten der Renten, auf Kosten der Bildungs- und Gesundheitswesen. Die Arbeitslosigkeit schnellte auf Rekordhöhe unter den Jungen. Eine ganze Generation wird ihrer Zukunftsperspektive beraubt. Dort, wo es weniger Arbeitslosigkeit gibt, wie beispielsweise in Deutschland und Grossbritannien, wurden dafür Millionen Arbeitnehmer in prekäre, ungesicherte Arbeitsverhältnisse gedrängt. Von den verantwortlichen Bankern aber landet keiner hinter Gitter. Die Boni steigen wieder fröhlich, derweil der untere Mittelstand verarmt.
Die Finanzkrise trifft England mit Wucht. Den Boden dafür bereitete Margret Thatcher mit ihrem neoliberalen Credo „There is no such thing as society“. Es gibt keine Gesellschaft, nur Individuen. Die Tories liberalisierten die Finanzindustrie und verlagerten die Industriearbeitsplätze in billige Länder. Ausser dem Finanzplatz London und der Kreativ-Industrie in einigen Städten gibt es heute in Grossbritannien kaum mehr zukunftsweisende Jobs. Und weil das Königreich keine flankierenden Massnahmen gegen Lohndumping kennt und keine ordentliche Berufsbildung hat, wurden Hundertausende Immigranten zugelassen, die handwerklich gut ausgebildet sind und zu Dumpinglöhnen arbeiten. 2010 verordnete die Regierung Cameron ein 100 Milliarden-Sparprogramm, das sind mehr als 20 Prozent der Staatsausgaben: Polizei, Justiz, Sozialfürsorge, Spitäler und Schulen wurden rabiat abgebaut.
Unterdessen ist England wieder eine Klassengesellschaft wie vor dem Zweiten Weltkrieg. Die Superreichen aus aller Welt werden mit Billigsteuern angezogen, legen ihre Milliarden in Immobilien, Schlösser und Land an. «Ausverkauf der Heimat» würde man das in der Schweiz nennen. In London kann sich ein normal verdienender Mensch längst keine Wohnung mehr leisten. Geschweige denn ein Häuschen, wie es sich bis in die 1980er-Jahren viele Arbeiterfamilien zusammensparen konnten.
Mit dem Finanzcrash ging auch der allgemeine Glaube an Thatchers neoliberales Wirtschaftskonzept baden. Der berühmte trickle down-Effekt kam nie bei den normalverdienenden Menschen an. Ältere Briten haben mehrheitlich für den Brexit gestimmt, denn sie haben am meisten verloren. Die Ökonomen warnten alle vor den wirtschaftlichen Folgen – ohne Erfolg. Ihre Glaubwürdigkeit war geschrumpft auf die durchschnittliche Sonnenscheindauer an einem englischen Regentag. Die Geister, die Thatcher gerufen und die von New Labour unter Tony Blair unterstützt wurden, sind nicht mehr beherrschbar.
Nichts ist einfacher, als in unübersichtlichen Zeiten bei Menschen Ängste zu schüren: vor dem Bürokratiemonster Brüssel oder vor Ausländern (als ob die an den niedrigen Löhnen selber schuld wären). Wenn solche Massnahmen Menschen treffen, für die es jahrelang nur bergab ging und die kein absehbares Ende der Misere erkennen, kann die Stimmung kippen. Das ist nicht neu – aber auch eine Lehre aus dem Brexit-Entscheid.
Freuen kann sich darüber nur die rechte Internationale, die wieder forsch auftritt. Doch nicht nur die EU hat ein Problem, nicht nur Europa. Man darf beunruhigt gespannt sein, was im Herbst in den USA passieren wird. Merkt Hillary Clinton, dass die Geister der Reagonomics sie verfolgen – und sie einige wichtige Forderungen von Bernie Sanders in ihr Programm aufnehmen muss? Wenn nicht, dann kann es auch in den USA ein fassungsloses Erwachen geben.
Text erschienen in der "Zeit" vom 30.6.2016