Ansprache von SP-Regierungsrätin Regine Aeppli an der Delegiertenversammlung der SP Kanton Zürich vom 3. Dezember 2013.

Liebe Genossinnen und Genossen

Vor kurzem hat mich auf einem Schulbesuch eine aufgeweckte Schülerin gefragt. „Wieso sind Sie i de SP und nöd inere andere Partei?“ Eine gute Frage. Warum bin ich in die SP eingetreten? Und warum bin ich heute noch überzeugt von meiner Partei? Und warum seid ihr, liebe Genossinnen und Genossen, in der SP? Warum seid ihr nicht zu den Grünen gegangen? Warum seid ihr nicht bei den Freisinnigen eingestiegen oder bei der CVP?

Ich bin der SP beigetreten, als die Partei noch jung war, jedenfalls deutlich unter 100 und ich noch nicht Ü30.

Es war nach 1968, die Welt war im Umbruch, es hat eine Stimmung geherrscht: alles wird anders, vieles wird möglich. Die SP befand sich in einer Art „Generationenmauser“. Aufmüpfige Studis forderten die Selbstverwaltung der Wirtschaft durch die Werktätigen, junge Frauen skandierten „Frauen zersprengt eure Ketten“. Wir wollten neue Themen einbringen. Aber die Werte der Sozialdemokratischen Partei haben wir geteilt. Im Vordergrund stand der Wunsch, dass nicht andere uns vorschreiben, was wir denken, tun und sagen sollen. Keine Bevormundung durch die Eltern, keine Drohungen von Arbeitgebern und Vermietern und keine politische Unterdrückung. Unsere Überzeugung war: Soziale Sicherheit ist die Voraussetzung für die persönliche Freiheit. Wer arbeitslos ist, kein Dach über dem Kopf hat und Hunger leidet, ist kein freier Mensch.

Unter dem Titel „Realisten oder Verräter“ hat der österreichische Publizist Günther Nenning die provokante These aufgestellt, Sozialisten und Kapitalisten seien Komplizen. Die Sozialdemokratie hingegen sei eine stark reduzierte Form von Sozialismus: „Sie ist besser als jene ‚linke‘ Kombination von ungeheuer viel Sozialismus und ungeheuer wenig Leuten, die für so viel Sozialismus sind“. Und etwas weiter im Text: „Sozialdemokratie ist jene Form von Sozialismus, die mit dem Klassenfeind zusammenarbeitet.“

Ja, liebe Genossinnen und Genossen. „Genau das tut die SP - sie hat keine andere Wahl. Um mehrheitsfähige Lösungen zu erarbeiten, muss sie mit aufgeschlossenen Bürgerlichen den Konsens suchen. Daraus entsteht der berühmte helvetische Kompromiss. Meistens bleibt dabei eine mittlere Unzufriedenheit zurück. Die einen haben nicht alles erreicht, die andern nicht alles aufgegeben. Genau das zeichnet den brauchbaren Kompromiss aus.“

Typisch Aeppli, denken jetzt bestimmt einige von euch. Der Gedanke ist nicht einfach falsch, aber die Aussage stammt nicht von mir; es handelt sich dabei um ein verbrieftes Zitat von Altmeister Helmut Hubacher.

Der 125. Geburtstag der SP Schweiz ist ein guter Anlass, auf unsere Geschichte und die Bedeutung der Partei für unser Land zurückzuschauen und über die Zukunft nachzudenken.

Die SP hat sich immer als Reformpartei verstanden und sie hat auf ihren pinken Pfoten und ihrem langen Weg viel erreicht. 1918, beim einzigen Generalstreik, den es in der Schweiz gegeben hat, wurde ein 9-Punkte Programm aufgestellt. Unter anderem wurden das Frauenstimmrecht, der Acht-Stunden-Tag und eine Altersvorsorge für alle gefordert. Der damalige Bundesrat witterte hinter solchen Forderungen einen politischen Umsturzversuch und setzte die Armee gegen die Streikenden ein.

Die Sozialdemokratische Partei war von Anfang an eine breite und vielfältige Gruppierung. Das ist bis heute so geblieben und das ist gut so. Gewerkschafter, Umweltschützerinnen, Pazifisten und Feministinnen, sie alle gehören zur grossen Familie SP. Zu meiner Zeit als Nationalrätin hiess es manchmal, dass die SP selten auf eine Parteilinie zu bringen sei: es gebe in der sozialdemokratischen Fraktion zu viele eigenwillige Köpfe. Das ist bis heute so geblieben. Und ich kann dazu nur sagen: Glücklich eine Partei, die das Problem hat, dass ihr Mitglieder selbstständig denken und handeln.

Ich bin überzeugt, dass diese Vielfalt eine Stärke unserer Partei ist. Die SP ist eine lebendige und eine farbige Partei. Und sie kann sich diese Vielfalt leisten, weil wir gemeinsame, fest verankerte Grundwerte haben und unsere Politik daran ausrichten.

Vieles, was für uns heute selbstverständlich ist, hat die SP Schweiz erkämpft: Die Einführung der AHV oder das Obligatorium der Krankenversicherung. Der „Vater der Altersvorsorge“, Hans Peter Tschudi, hat als Bundesrat mit seinem Kampf für eine höhere AHV-Rente und die Einführung der Ergänzungsleistungen nicht nur einen sozialpolitischen Meilenstein gesetzt. Er hat auch gezeigt, an welcher Richtschnur wir unsere Politik ausrichten: Sein Einsatz für eine existenzsichernde Altersvorsorge hat auf dem Grundsatz basiert, dass die Rentnerinnen und Rentner nicht als Bittsteller auftreten müssen, sondern als Menschen, die nach einem jahrzehntelangen Arbeitsleben, ein Recht darauf haben, dass sie im Alter materiell abgesichert sind.

Liebe Genossinnen und Genossen, wir wollen auch heute, keine Gesellschaft von Bittstellern, sondern eine, in der jeder und jede das Recht hat, ein selbstbestimmtes Leben zu führen.

Wir setzen uns für die Chancengleichheit in der Bildung ein. Wir wollen eine Ausländer- und Asylpolitik, welche die Menschen respektiert, und wir kämpfen für eine Entwicklungspolitik, die den Menschen in ihrer Heimat eine Perspektive für ein Leben ohne Hunger, mit einem Dach über dem Kopf und frei von Angst und Gewalt ermöglicht, damit sie nicht flüchten müssen.

Der Soziologe und Politiker Ralf Dahrendorf hat das 20. Jahrhundert zu Recht als sozialdemokratisches Jahrhundert bezeichnet. Geirrt hat er sich hingegen in seiner Vorhersage, dass mit dem Ende des Jahrhunderts auch die Zeit der Sozialdemokratie abgelaufen sei.

Die letzten Jahre zeigen, dass das Gegenteil der Fall ist. Es braucht die Politik der SP mehr denn je und unsere Politik ist erfolgreich. Denn die SP ist die einzige Partei, die konsequent für den sozialen Frieden, den Zusammenhalt in unserem Land und die Integration in Europa einsteht.

Es ist uns in den letzten Jahren auch gelungen, die Sozialwerke gegen die neoliberalen Abbaupläne zu verteidigen. Im Kanton Zürich haben wir die Vereinbarkeit von Beruf und Familie verbessert: Heute gibt es in allen Gemeinden Tagesstrukturen, Mittagstische und Krippen- und Hortplätze. Tagesschulen bleiben trotzdem unser Ziel. Was wir hingegen nicht brauchen, sind „Familien-Initiativen“ mit Steuererleichterungen für Gutverdienende. Um solche Vorhaben umzusetzen bzw. abzuwenden, braucht es auch die Vertreterinnen und Vertreter bürgerlicher Parteien. Familienpolitische Themen eignen sich gut, um gemeinsam mit aufgeschlossenen Bürgerlichen die SVP in die Schranken zu weisen – vorausgesetzt sie kosten nicht zu viel.

Etwas anders sieht es aus, wenn es um das Verhältnis „Einheimische – Zugewanderte“ geht. Da gilt für die Bürgerlichen frei nach Max Frisch: „nur ein arbeitender Ausländer ist ein guter Ausländer“. Dass in unserem Land jeder/jede Dritte zugewandert ist, wenn man drei, vier Generationen zurückblickt, wird schlicht negiert. Nur die SP fordert seit Jahren eine aktive Politik zur Integration der Zugewanderten. Dank unserer Justizministerin, aber auch unserem kantonalen Justizvorsteher und seinem Vorgänger, bewegt sich endlich etwas in Sachen Integration.

Ein anderes Beispiel: die Europapolitik. Nicht zuletzt dank der SP hat die Schweiz einen Modus Vivendi mit der EU gefunden. Aber der Zustand ist innenpolitisch labil und Jahr für Jahr kommt es bei Abstimmungen zu Zitterpartien. Der Bundesrat laviert zwischen den Fronten und weiss, dass unsere demokratischen Rechte zwar vor voreiligen Umwälzungen bewahren, aber auch hohe Hürden für fällige Neuerungen in der Innen- wie in der Aussenpolitik sind. Erschwerend kommt hinzu, dass die bürgerlichen Parteien in der Aussenpolitik wie von der SVP verzauberte Froschkönige agieren und auf den erlösenden Kuss einer Prinzessin angewiesen sind. Wir sollten es – unter Einhaltung unserer roten Linien - wagen, denn die Zukunft unseres Landes liegt in Europa. Bei den Abstimmungen im kommenden Jahr geht es nicht mehr nur darum, den freien Waren-, Dienstleistungs- und Personenverkehr anzupreisen. Es braucht handfeste innenpolitische Zusicherungen in der Raum- und der Wohnbaupolitik, aber auch im Bereich arbeitsrechtlicher Mindeststandards. Das sind unsere Dossiers, darin haben wir Erfahrung und einen Vertrauensbonus bei der Bevölkerung. Nehmen wir die Herausforderung an!

Unsere Zukunft liegt aber auch darin, den Menschen in unserem Land die nötige Bildung zu vermitteln, die es braucht, um mit den Anforderungen eines Arbeitsmarktes Schritt zu halten, der auf hohes fachliches Niveau angewiesen ist. Eine Bildung, die ein Fundament schafft, um auch mit Veränderungen umzugehen.

Ich glaube, wir dürfen heute sagen, dass die SP die Bildungspartei ist und es – zusammen mit ihren Verbündeten - soweit gebracht hat, dass wir im Kanton Zürich bisher verhindern konnten, dass auf Kosten der Bildungsinstitutionen die Steuern gesenkt werden.

Unser Ziel muss es weiterhin sein, dass unsere Bildung allen offensteht und alle, unabhängig von ihrem familiären und sozialen Hintergrund, das werden können, was ihren Neigungen und Eignungen entspricht.

Der langen Rede kurzer Sinn: Ich bin überzeugt, auch das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Sozialdemokratie. Es gibt noch einiges anzupacken. Es ist eine Tatsache, dass sich die Lohnschere in den letzten Jahren weiter geöffnet hat. Ein Beispiel dazu: Im Kanton Zürich wurden auf Anfang dieses Jahres die revidierten Kleinkinderbetreuungsbeiträge in Kraft gesetzt, die für zwei Jahre geleistet werden, um es den Eltern zu ermöglichen, sich persönlich um die Kinderbetreuung zu kümmern. Innerhalb eines einzigen Jahres haben sie sich zu den gefragtesten Familien-Leistungen entwickelt und kosteten die Gemeinden rund viermal mehr als bisher. Ich schliesse daraus, dass die Zahl der Familien, in denen ein Lohn zur Bestreitung des Familienunterhalts ausreicht, stark zurückgegangen ist. Ich kann aber auch nachvollziehen, dass dies in den Gemeinden Irritationen auslöst. Aber dass man darum dieses familienfreundliche Instrument gleich wieder abschaffen will, wie das die Bürgerlichen nun verlangen und sogar hinter den Status von 1992 zurückgehen will, ist für mich eine Panikreaktion, die wir verhindern müssen. „Die SP ist Frostschutz gegen die soziale Kälte“. Auch das ist ein Zitat unseres ehemaligen Vorsitzenden Helmut Hubacher. Ich könnte es nicht besser sagen.

Es geht heute in unserer Politik nicht mehr um die Befreiung der Arbeiterklasse. Es geht heute darum, dass alle ein möglichst selbstbestimmtes Leben führen können. Ein selbstbestimmtes Leben bis ins hohe Alter ist aber nur dann möglich, wenn auch die Altersvorsorge gut ist und die Pflegeleistungen allen offen stehen.

Ich bin der Meinung, dass wir unseren Wählerinnen und Wählern zeigen müssen, dass Freiheit ein sozialdemokratischer Wert ist. Freiheit heisst für uns Toleranz gegenüber Anderen, auch anders Denkenden und Lebenden. Es geht nicht darum, einen allein selig machenden Tugendpfad vorzuschreiben. Ich glaube darum auch nicht, dass es Aufgabe der SP ist, immer neue Präventionsmassnahmen zu erfinden und umzusetzen. Die Politik ist nur das Notenblatt, das den Takt angibt, die Musik wird von den Menschen gemacht. C’est le ton qui fait la musique.

Liebe Genossinnen, liebe Genossen. Auf die Frage der kleinen Schülerin: „Wieso sind Sie i de SP und nöd inere andere Partei?“ konnte ich eine klare und einfache Antwort geben: Ich bin in der SP, weil die Werte der SP auch meine Werte sind: Gerechtigkeit, Solidarität, Freiheit und Nachhaltigkeit. Und ich vertraue darauf und fühle mich mit euch verbunden, weil ich überzeugt bin, dass das für euch auch gilt – die nächsten 5, 10, 100 und 125 Jahre.

27. Dez 2013