Unsere Bundesverfassung will nicht nur, dass „die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen“ misst. Vom Volk angenommen, hält die Bundesverfassung auch als erstes Grundrecht hoch: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Das Schweizer Volk hat damit erklärt, eine Gesellschaft stützen zu wollen, in welcher die Menschen in Würde zusammenleben können. Darum darf sich die Wirtschaft nicht länger drücken. Es ist ein Skandal, wenn der Arbeitgeberpräsident erklärt, dass Löhne nicht existenzsichernd sein müssen.

Die Aussage von Tamara H.,  stellvertretende Leiterin einer Filiale eines Schuh- und Sportgeschäfts, hat diese Woche die Schweiz bewegt: Sie verdient nach einer dreijährigen Berufslehre und sechs Berufsjahren einen Bruttolohn von 3500 Franken: «Jeder Mensch weiss doch, dass ein solcher Lohn nicht ausreicht, um den Lebensunterhalt zu bewältigen. Solche Löhne bedeuten Unsicherheit für die Zukunft. Alle sollten in der reichen Schweiz, wo einige Leute sehr viel verdienen, einen fairen Lohn erhalten, der auch zum Leben reicht.» 

Die Vermögen der Aktionäre von Ketten wie H&M und C&A betragen Milliarden. Bessere Löhne sind finanzierbar! Es ist nur eine Frage der Verteilung der Gewinne.

Eine Verkäuferin, Jahrgang 1949, geht 2013 mit einem Durchschnittslohn (ohne 13. Monatslohn) von 3800 Franken in Pension.

Eine Floristin, Jahrgang 1949, geht 2013 mit einem Durchschnittslohn (ohne 13. Monatslohn) von 3300 Franken in Pension.

Tiefe Löhne bedeuten tiefe Renten – lebenslänglich: Fast 70 Prozent der Frauen und Männer mit einer AHV-Einzelrente erhalten eine Rente, die kleiner ist als die Maximalrente, also weniger als 2340 Franken im Monat. Und 42 Prozent der Ehepaare erhalten eine AHV-Rente, die kleiner ist als die Maximalrente von 3510 Franken pro Monat.

Das wiederum bedeutet jedes Jahr mehr BezügerInnen von Ergänzungsleistungen (EL) und jedes Jahr höhere Gesamtausgaben für die EL, woran die Steuerzahlenden der Kantone 70 Prozent und jene des Bundes 30 Prozent finanzieren.

Zudem: Wenn Frauen fünf Tage arbeiten erhalten sie den Lohn nur für vier Tage, nämlich rund 20 Prozent weniger als die Männer. Im Verkauf zum Beispiel mit 30 Jahren 630 Franken pro Monat weniger. Ein Skandal!

Frauen leiden besonders unter Tieflöhnen. Es gibt kaum ein anderes Land, in Frauen fast drei Mal häufiger von Tieflöhnen betroffen sind als Männer (vgl. Eurostat vom 20. Dezember 2012). Sozialpolitisch besonders schwer wiegt dabei, dass die Frauen häufiger alleinerziehend sind als Männer. Unter der unwürdigen finanziellen Situation der Frauen leiden deshalb nicht nur die Frauen selbst, sondern auch ihre Kinder.Jedes siebte Kind lebt in Armut. Das wirkt sich schon auf die Zukunftsperspektiven dieser Kinder negativ aus.

Unsere Bundesverfassung will aber nicht nur, dass „die Stärke des Volkes sich am Wohl der Schwachen“ misst. Vom Volk angenommen, hält die Bundesverfassung auch als erstes Grundrecht hoch: „Die Würde des Menschen ist zu achten und zu schützen.“ Die Würde des Menschen ist die Grundsatznorm des Rechtsstaats. Sie formuliert die Kernaussage der materiellen Rechtsstaatsidee. Sie umschreibt den Kerngehalt des staatsleitenden Prinzips des Rechtsstaats.

Das Schweizer Volk hat damit erklärt, eine Gesellschaft stützen zu wollen, in welcher die Menschen in Würde zusammenleben können. Darum darf sich die Wirtschaft nicht länger drücken. Es ist ein Skandal, wenn der Arbeitgeberpräsident erklärt, dass Löhne nicht existenzsichernd sein müssen.

Wir SP-Frauen und Gewerkschafterinnen fordern: „Lohngleichheit jetzt“ für die Frauen! Denn auch die Rechtsgleichheit ist in der „Würde des Menschen“ begründet, da diese den Massstab für die grundsätzliche Gleichbehandlung der Menschen setzt. Artikel 8 der Bundesverfassung lautet klipp und klar: „Frau und Mann haben Anspruch auf gleichen Lohn für gleichwertige Arbeit“.

Ich frage Sie Herr Bundesrat Schneider-Ammann: Was haben Sie bisher als Volkswirtschaftsminister für die Lohngleichheit der Frauen gemacht? Ich habe nichts gemerkt. Der Lohngleichheitsdialog scheitert kläglich. Auch deswegen braucht es die Mindestlohn-Initiative. Sie bringt einen kräftigen Schub für die Gleichstellung der heute unwürdigen Löhne für Hunderttausende von Frauen.

Die Erfahrung in England zeigt, dass der Lohnunterschied zwischen Männern und Frauen mit der Einführung des Mindestlohnes abgenommen hat. Lesen Sie den Bericht der „Low pay commission“ von 2012. Geht man davon aus, dass die Männer einen „Marktlohn“ erhalten, so sind die Frauen unter dem „Markt“ bezahlt. Die Einführung eines Mindestlohnes für die Frauen wird dieses elende „Marktversagen“ beseitigen. 

Ich erinnere Sie daran, geschätzte Kolleginnen und Kollegen, dass wir mit dem Legislaturprogramm 2011-2015 dem Ziel „Gleicher Lohn für gleiche Arbeit“ zugestimmt haben. Mit der Mindestlohn-Initiative haben Sie heute die Gelegenheit, unseren Worten Taten folgen zu lassen. 

Besonders unwürdig wird mit gewissen Schweizer Berufslehren umgegangen. Selbsteine Berufslehre garantiert heute keinen guten Lohn mehr. Über ein Drittel der Menschen mit tiefen Löhnen haben eine abgeschlossene Berufslehre, zum Beispiel im Detailhandel (37‘260 betroffene Arbeitnehmende), im Gastgewerbe (26‘177 Arbeitnehmende), in Reinigung und Sicherheit (11‘370 Arbeitnehmende). Die Reallöhne der Erwerbstätigen mit Lehrabschluss haben in den letzten Jahren stagniert oder sind sogar gesunken. Wie sollen sie eine Familie gründen können, ohne in die Armutsfalle zu geraten? Auch deswegen braucht es die Mindestlohn-Initiative! 

Die OECD kam im Beschäftigungsausblick 2006 nach der Auswertung mehrerer Studien zum Schluss, dass es keine signifikanten Auswirkungen von Mindestlöhnen auf die Arbeitslosenrate gibt. Und die bahnbrechende Studie Card/Kruger über die Schnell-Imbissketten in den USA zeigte, dass die Erhöhung von Mindestlöhnen zu einem Beschäftigungsanstieg führte.

Klar ist, dass Mindestlöhne zu einer ausgeglicheneren, gerechteren Einkommensverteilung führen, indem die Lage der tiefen und mittleren Einkommen verbessert wird. Diese Einkommensklassen können kaum Ersparnisse bilden. Durch eine geringere Ungleichverteilung der Einkommen fliesst daher mehr Einkommen über den Konsum in den Wirtschaftskreislauf zurück und schafft Arbeitsplätze.

Wird in der Schweiz ein gesetzlicher Mindestlohn eingeführt, gibt es zusätzliche Faktoren, die negative Auswirkungen auf die Arbeitslosigkeit verhindern:

Ertens: Im Gegensatz zu Ländern wie den USA oder England steigen die Jugendlichen in der Schweiz über eine Ausbildung ins Berufsleben ein. Der grösste Teil absolviert eine Berufslehre.Sie sind während der Lehre vom Mindestlohn ausgenommen.Bedenken, dass die Einführung bzw. die Erhöhung eines Mindestlohnes mehr Jugendarbeitslosigkeit zur Folge haben würde, treffen deshalb für die Schweiz nicht zu.

Zweitens: Das Gros der TieflohnbezügerInnen – nämlich 77 Prozent –  sind hierzulande vielmehr 25-jährig und älter. Steigen durch die Einführung des Mindestlohnes die Löhne nach der Lehre, macht das die Lehre attraktiver. Dass durch den Mindestlohn auch die Löhne von „unqualifizierten“ Tätigkeiten steigen, dürfte der Attraktivität der Lehre nicht schaden. 

Sehr geehrte Kolleginnen und Kollegen,

27 Prozent der befragten Personen sagten in der vor wenigen Tagen veröffentlichten Umfrage eines grossen Inkassounternehmens, dass sie nicht genug Geld haben, „um ein menschenwürdiges Leben zu führen“.

In einer neuen repräsentativen Umfrage befürworten 74 Prozent der Befragten einen Mindestlohn von 4000 Franken.

Setzen wir darum ein Zeichen für die soziale Gerechtigkeit in der Schweiz. Achten und schützen wir die Würde aller Arbeitnehmenden in der Schweiz. Verringern wir die unwürdige Lohnungleichheit der Frauen, und eliminieren wir – endlich - die Armut für jedes siebte Kind in der Schweiz!

Stimmen Sie der Mindestlohninitiative zu.

28. Nov 2013