1.-August-Rede in Niedergösgen, SO

Warum heisst die Schweiz Schweiz?

Die alten Schweizer nannten ihr Land „Eydgnosschaft“. Es waren unsere Nachbarn nördlich des Rheins, welche die Urkantone gesamthaft als „Schwyzer“ bezeichneten. Der Name „Schwyz“ stammt aus einer Zeit, da die Muota noch wild romantisch durch das Tal floss, und die ganze Landschaft im hellen Sonnenlicht nur so glitzerte und glänzte.

Im Namen Schweiz steckt das alte Wort „suei“, glänzen. Der Name unseres Landes hat also etwas zu tun mit Glanz. Glanz der Naturschönheiten, Glanz aber auch der Sauberkeit, des Wohlstandes, der politischen Stabilität, der demokratischen und humanitären Tradition, der sozialen Gerechtigkeit. Die Touristinnen und Touristen kommen nicht nur der Naturschönheiten wegen, sie besuchen auch das Bundeshaus oder die Appenzeller Landsgemeinde. Manche pilgern aufs Rütli oder nach Heiden, wo der Gründer des Roten Kreuzes, Henri Dunant, gelebt hat.

Wir alle tragen diese Bilder in uns. Und die Werte, die diesen Glanz ausmachen, sind uns wichtig. Das wird mir manchmal ganz unverhofft wieder bewusst, wenn ich auf der Fahrt nach Bern auf einmal das Alpenpanorama vor mir sehe. Da beneide ich euch, die ihr hier wohnt: Denn von eurem Hausberg habt ihr bei klarem Wetter den Blick auf die ganze Alpenkette, den Blick mitten ins Herz der Schweiz, auf die Quellen des Wasserreichtums auch, dem wir unsere wirtschaftliche Prosperität verdanken. Ihr lebt in einem aktiven, lebendigen Dorf, wo die Gemeinschaft gepflegt wird. Das schafft ein Zuhause. Das ist Heimat.

Heimat ist dort, wo man keine Angst haben muss, sagte Willi Ritschard einmal zu recht. Heimat ist dort, wo wir sicher sein können, geschützt gegen Armut und Einsamkeit. Wo wir darauf vertrauen können, dass Schulen, Spitäler, Züge, Polizei, die Versicherung bei Krankheit, Arbeitslosigkeit und im Alter funktionieren und für jeden für uns da sind, wenn wir sie brauchen. Heimat ist nicht einfach ein Geschenk des Himmels, Heimat schaffen wir nur gemeinsam, im Willen zum Zusammenhalt, im Willen, uns gegenseitig zu stützen und zu respektieren. Das Modell der Schweiz ist ein Gemeinschaftswerk, das Werk einer Gemeinschaft, in der jede und jeder einen Beitrag leistet und ein Stück Verantwortung übernimmt. Weil wir zusammenleben und zusammen gehören wollen, bestimmen wir zusammen, was wir als Gemeinschaft wollen, bestimmen wir gemeinsam unser Staatswesen.

Das tönt ja alles schön und gut, aber der Glanz, von welchem dieses Land seinen Namen herleitet, hat in den letzten Jahren gelitten.

  • So verbrauchen wir mit unserem Lebensstil so viel vom Reichtum dieser Erde, dass es zwei Erden bräuchte, um unseren Rohstoffhunger zu stillen. Wir haben aber nur diese Eine. Die Wissenschaft warnt darum, wir würden so die Lebensgrundlagen späterer Generationen in Frage stellen. Ja, wo einst Gletscher glänzten, starren uns heute Steinwüsten entgegen. Die Klimaerwärmung lässt sich nicht leugnen
  • Die Aufarbeitung unserer jüngsten Geschichte hat uns bewusst gemacht, dass die Rolle, welche die Schweizer Politik und Wirtschaft im Zweiten Weltkrieg gespielt haben, nicht besonders gut ins traditionelle Bild der demokratischen, wehrhaften und humanitären Schweiz passt.
  • Wir können uns auch der Erkenntnis nicht verschliessen, dass der Reichtum hierzulande, angesichts der Armut in vielen Teilen der Welt als skandalös wahrgenommen wird, umso mehr, als er nicht nur das Ergebnis harter Arbeit und eines hohen Bildungsstandes ist, sondern auch auf Kosten anderer zustande gekommen ist.
  • Wir wissen sehr wohl, dass auch in unserer Schweiz manche das Gemeinschaftswerk zum eigenen Profit ausnutzen, Millionengagen entgegennehmen, während bei mehr als 400‘000 Erwerbstätigen der Lohn trotz Vollzeitjob kaum zum Leben reicht. Exorbitanter Reichtum bedroht die Demokratie, insbesondere wenn die Mittel zur Konzentration der Medien und zur Stärkung der persönlichen Macht eingesetzt werden. 
  • Und dass gewisse Banken ihre Diskretionspflicht international zur Förderung der Steuerhinterziehung missbrauchten und so den Finanzplatz Schweiz in Misskredit brachten, wussten wir eigentlich schon lange. Beschämend ist bloss, dass wir diesen Machenschaften nicht aus eigener Kraft einen Riegel schieben konnten und es erst jetzt, unter dem Druck des Auslandes, tun.

Hier gilt es so rasch wie möglich klare Verhältnisse zu schaffen. Es ist nicht das erste Mal, dass die Schweiz von einer alten, aber fragwürdigen Praxis Abschied nehmen muss. Während Jahrhunderten waren einst die Oligarchen in den Hauptorten der Alten Eidgenossenschaft zu Reichtum gekommen, indem sie die Söhne ihrer Untertanen als Söldner in fremde Kriegsdienste schickten. Die Bundesverfassung von 1848 setzte dem ein Ende. Auch damals befürchteten manche, eine Schweiz ohne Söldnerwesen sei undenkbar. Mit der überfälligen Abschaffung des Steuerhinterziehungsgeheimnisses stehen wir heute an einem ähnlichen Punkt. An einem Wendepunkt. Ich meine, die Beihilfe zur Steuerhinterziehung gehört ebenso wenig zur Identität der Schweiz wie früher das Söldnerwesen.

Dabei geht es der Schweiz gut, während um uns herum Europa in einer Krise steckt. Über 26 Millionen Menschen, das ist mehr als dreimal die Bevölkerung der ganzen Schweiz, sind arbeitslos. Die Menschen verlieren die Hoffnung, den Glauben an Politik und Demokratie. Sie wenden sich ab, weil sie merken: Es gibt einige wenige, die immer reicher und reicher werden, während sie selbst sich Tag für Tag abmühen und doch nicht wirklich vorwärts zu kommen. Diese Ungleichheit ist ungut für die Demokratie, auch weil in verschiedenen Staaten Europas zum Angriff auf die Sozialversicherungen, auf die Gesundheitsversorgung, auf die Bildung geblasen wird. Ein Teufelskreis?

Die Schweiz lebt im Wohlstand. Zu diesem Wohlstand haben wir alle unseren Beitrag geleistet mit unserer Arbeit, Tag für Tag. Und alle haben es verdient, an diesem Wohlstand teilzuhaben. Denn einer Gesellschaft geht es nur dann gut, wenn es allen gut geht. Und doch profitieren auch in der Schweiz einige wenigr viel mehr als alle andern. Diese Wenigen nehmen sich schamlos Millionengagen, während für die anderen, ja für eine wachsende Zahl von Erwerbstätigen der Lohn trotz Vollzeitjob kaum zum Leben reicht. Sie wissen, wen ich meine. Ja, so ein Vasella mit seinen 25‘000 Dollar pro Tag trage eben eine ungeheure Verantwortung, heisst es jeweils. Glauben sie im Ernst, dass er mehr Verantwortung trägt als ein Bundesrat, dass er sogar 12 Mal mehr Verantwortung trägt? Nein mit Neid hat diese Kritik nichts zu tun, aber mit Gerechtigkeit und mit der Sorge um unsere Demokratie.

Auch in der Sozialpolitik stehen uns heftige Auseinandersetzungen bevor. Wer bei den Altersrenten schraubt, muss sich auf zähen Widerstand gefasst machen. Es geht doch nicht an,  die hohen und höchsten Einkommen zu entlasten und gleichzeitig damit der AHV die Einnahmen wegzunehmen. Die AHV ist das Herzstück der sozialen Schweiz. Man muss sie stärken, nicht schwächen! Von ihr profitieren alle, gerade auch die Jungen. Dank der AHV müssen junge Familien nicht extra für eine teure private Altersvorsorge sparen. Die AHV ist ein Werk der Solidarität zwischen den Generationen- Sie sorgt für den Zusammenhalt, für politische Stabilität in unserem Land, welche für unsere Wirtschaft und unsere Arbeitsplätze so wichtig ist.

Rohstoffe haben wir in der Schweiz, abgesehen von den grauen Zellen in unseren Gehirnen, bekanntlich keine. Aber wir sind reich an Wasser. Das ist es, was wesentlich mitgeholfen hat, der Schweiz Industrie und Wohlstand zu bringen: die intelligente Nutzung der Wasserkraft. Heute stehen wir wieder an einem solchen Punkt. Heute geht es um die intelligente Nutzung der Kraft von Wind und Sonne. Die Sonne hat in den Alpen eine Einstrahlung, so intensiv wie in Spanien. Mehr als 1000 Kilowattstunden pro Quadratmeter schickt sie uns Jahr für Jahr, gratis und franko. Wozu sollen wir also weiterhin 80% der Energie importieren und jährlich 8 Milliarden Franken bezahlen? Ich bin überzeugt, die sauberen Energien setzen sich durch, weltweit und auch hier in der Schweiz, wenn wir es bloss wollen. Und das Erdbeben in St. Gallen? Es ist ein deutlicher Fingerzeig. Wenn wir nicht einmal mögliche Folgen eines Bohrlochs einschätzen können, wie wollen wir dann die Risiken ermessen, welche wir durch die Einlagerung radioaktiver Abfälle im Untergrund eingehen? Nehmen wir den 1. August zum Anlass, uns auf unsere eigenen Kräfte zu besinnen. Befreien wir die Schweiz von der Abhängigkeit von Ölscheichs, von Kohle-, Gas- und Uranstaaten, durch den entschiedenen Willen zur Energiewende. Das stärkt unsere Souveränität, das stärkt unsere Wirtschaft – und es trägt auch bei zu ein bisschen mehr Frieden auf der Welt.

In diesem Sinne wünsche ich uns allen einen schönen 1. August.

02. Aug 2013