Am besten lässt sich die Selbstbestimmungslüge und die Demokratielüge anhand eines konkreten politischen Feldes darstellen, den Regulierungen um den europäischen Strommarkt. Der typische Gesetzgebungsakt in der EU heisst Richtlinie. Vor einem Jahr hat die EU-Kommission einen Richtlinienentwurf vorgelegt, welche die Grundlage für die Optimierung des bestehenden, länderübergreifenden Strommarktes darstellt. Die Kommission hat diese Richtlinienrevision nicht aus der Luft gegriffen, viel mehr hat sie vorab eine Konsultation durchgeführt. Wir würden das Vernehmlassung nennen. Jeder EU-Bürger und jede EU-Bürgerin konnte an dieser Konsultation teilnehmen. Wie bei uns in der Schweiz, werden aber Konsultationen vornehmlich von Interessensorganisationen wahrgenommen.
Wenn die europäische Kommission einen Richtlinienentwurf vorgelegt hat, dann können vor den Beratungen in den Ausschüssen des Europaparlamentes die Mitgliedsstaaten ihre Stellungnahmen abgeben. Konkret hat es zu diesem Vorhaben elf nationale Stellungnahmen gegeben. Zwei Stellungnahmen wiesen die EU-Kommission und das EU-Parlament auch darauf hin, dass der Richtlinienentwurf das Subsidiaritätsprinzip der EU verletze. Beratende Stellungnahmen wurden auch beim Wirtschafts- und Sozialausschuss (EWSA) sowie beim Ausschuss der Regionen eingeholt. Die Schweiz ist in all diesen Schritten nicht involviert. Wir sind abwesend, nicht einmal beratend wirken wir mit – die EU-Institutionen entwickeln für uns die grenzüberschreitenden Vorgaben des Elektrizitätsbinnenmarktes.
Betrachtet man nun die aktuell laufende politische Arbeit in den Parlamentsausschüssen, dann erkennt man ähnliche Prozessuren wie bei uns im Nationalrat. Der federführende Ausschuss für Industrie, Forschung und Energie (ITRE) hat mit den Beratungen noch nicht begonnen, die Antragsfrist ist aber bereits abgelaufen. Gesamthaft wird der Ausschuss über 650 (!) Änderungsanträge zu beraten haben. Ergänzend zum federführenden Ausschuss hat der Ausschuss für Umweltfragen, öffentliche Gesundheit und Lebensmittelsicherheit (ENVI) zusätzliche 120 Änderungsanträge empfohlen. Nichts von Demokratiedefizit! In den nächsten Monaten werden die von den EU-Bürgerinnen und EU-Bürgern gewählten Parlamentsmitglieder die neue Richtlinie beraten, abändern und die erste Lesung abschliessen. Folgt der Europäische Rat dem Parlament, dann geht es schnell, ansonsten folgt eine zweite und dritte Lesung und am Schluss findet man sich im Vermittlungsausschuss, wenn zwischen Parlament und Rat keine vorherige Einigung sattfindet.
Ich verfolge im Moment mit Interesse die Rechtsentwicklung zum gemeinsamen Elektrizitätsbinnenmarkt. Dabei erkenne ich auf eindrückliche Weise, dass das mit der nationalen Selbstbestimmung eine grosse Lüge ist. Was auch immer die EU-Mitgliedsstaaten in dieser neuen Richtlinie beschliessen werden – wir Schweizer kommen nicht um diese Regulierungen herum. Und eines ist auch klar: Die Mär vom EU-Demokratiedefizit stimmt schon lange nicht mehr. Das Mitentscheidungs- und Vermittlungsverfahren zwischen EU-Parlament und Rat ist ein würdiges Kräftemessen. Nur wer nicht dabei ist, ist ein Tor. Solche Torheit zeichnet unser Verhältnis Schweiz-EU aus, weil wir von links bis rechts die Umstände der europäischen Rechtsentwicklung eben auch 25 Jahre nach dem EWR-Nein immer noch nicht richtig einschätzen und in Lügen-Modellen mit dem Namen „Demokratiedefizit“ und „Selbstbestimmung“ verharren.