Natürlich bin ich gegen Burkas – dieser Sack ist ein Kleidergefängnis und Ausdruck patriarchalischer Islamistenvorschriften, die mit der muslimischen Religion wenig zu tun haben. Das sagen alle meine muslimischen Kolleginnen. Bei uns kommuniziert man von Angesicht zu Angesicht.
Gleichzeitig finde ich ein Verbot auf Verfassungsstufe unverhältnismässig. Schon allein deshalb, weil es in der Schweiz kaum Burka- oder Niqab-Trägerinnen gibt, wenn wir einmal von reichen Touristinnen absehen. Dort, wo die Burka im Alltag überhand nehmen könnte, wie beispielsweise in einzelnen Tourismus-Orten, kann man sie regional oder kantonal verbieten. In Basel habe ich in den letzten 20 Jahren vielleicht zwei- oder dreimal eine Burkaträgerin gesehen. Es ist wie mit dem Minarett-Verbot: Im Kampf gegen Terror-Verbrecher braucht es andere Massnahmen als symbolische Verbote in unserer Verfassung. Daher etwas mehr pragmatische Gelassenheit, bitte!
Was mich an dieser Debatte besonders beelendet, ist die Verschiebung der Dramatik im veröffentlichen Diskurs in Europa: Seit 5 Jahren tobt ein brutaler, unbarmherziger Krieg in Syrien, bei dem fast alle Seiten übelste Kriegsverbrechen begehen, foltern, morden, Städte aushungern und Gasangriffe verüben. Zugleich ist es ein dreckiges Milliardengeschäft von Waffenhändlern. Dass via Saudi-Arabien auch Schweizer Handgranaten nach Syrien fanden, ist kein Ruhmesblatt für uns: Wie immer ist es die Zivilbevölkerung, die dem brutalen Morden hilflos ausgeliefert ist.
Die elenden Waffengeschäfte, auch von EU-Staaten und EU-Beitrittskandidaten, haben in Syrien Millionen von Kriegsvertriebenen produziert. Dasselbe Europa aber ist unfähig, diese Flüchtlinge einigermassen gerecht zu verteilen. Es dominiert die Debatte, wo welcher Staat seine Obergrenze für die Aufnahme von Flüchtlingen ansetzen wolle – und die Burkaverbot-Debatte.
Es ist höchste Zeit, dass wir den Fokus wieder verschieben auf die wirklich dramatische Situation in und rund um Syrien. Zurzeit leben noch etwa 200'000 Zivilisten in Aleppo: Frauen, Männer, Kinder. Abgeschnitten von Wasser und Nahrungsmitteln inmitten der zerfallenden Infrastruktur. Sogar Spitäler werden bombardiert. Das Bild des völlig verstörten Jungen in Aleppo hat Millionen erschüttert, das kann man aus den Tweets ebenso lesen wie aus den Leserbriefspalten. Aber ein Empörungs-Klick auf Facebook erschüttert die internationale Politik nicht. Dazu braucht es Millionen Menschen auf der Strasse. So, wie das vor dem Napalm-Angriff fliehende Mädchen Kim Phúc die Massen-Demonstrationen vor Jahrzehnten gegen den Vietnam-Krieg mitmobilisiert hat.
Eigentlich müssten doch in diesen Tagen Millionen von Menschen in ganz Europa und Eurasien, in Nordafrika und in den USA auf die Strasse gehen und das Ende dieses unsäglichen Kriegs fordern – so lange, bis es die internationale Politik schafft, einen Waffenstillstand, humanitäre Korridore und anständige Unterstützung der Flüchtlingslager vor Ort durchzusetzen und die Kriegsparteien an einen Tisch zu zwingen.
Oder sind wir alle schon so resigniert und zynisch, das wir meinen, das habe ohnehin keinen Sinn, noch ehe wir es probiert haben? Empört euch!, hat der KZ-Überlebende Stéphane Hessel als schriftliches Testament hinterlassen. Genau das sollten wir tun – und darauf drängen, dass den Kriegstreibern der Nachschub ausgeht: Es ist wirklich höchste Zeit, sich gegen diesen unmenschlichen Wahnsinn zu empören, anstatt epische Burka-Debatten zu führen.
Erschienen in der Zeit vom 25.8.2016