Wir haben heisse Wochen hinter uns. Die Messstationen wissen von keinem heisseren Juli als dem diesjährigen zu berichten. Das Wetter können wir zum Glück nicht ändern, (höchstens das Klima schützen, aber das ist ein anderes Thema). Wir haben aber auch im übertragenen Sinn heisse Wochen und Monate vor uns: Der starke Franken fordert unsere Realwirtschaft, das Verhältnis zu Europa ist blockiert und die humanitären Katastrophen in Vorderasien und Afrika treiben Millionen Menschen in die Flucht. Ein paar Tausend schaffen es in die Schweiz und erbitten unsere Hilfe.

Genügend aktuelle und künftige Herausforderungen also würde man meinen, damit sich das ganze Land energisch mit seiner Gegenwart und vor allem Zukunft beschäftigt. Doch die einzige grosse gesellschaftliche Debatte der vergangenen Monate drehte sich um alte Schlachten und wie man sie feiern sollte. Im Unterschied zum Wetter können wir das allerdings ändern.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, verstehen Sie mich bitte nicht falsch. Ich bin durchaus der Meinung, dass man sich an den nationalen Mythen erfreuen darf, sogar im Wissen darum, dass vieles im Nebel ist und wir eine Vorstellung von Morgarten und Marignano feiern, die erst vor rund 100 Jahren konstruiert worden ist. Was mir Sorgen macht, ist die Vorstellung gewisser Kreise, dass man aus mit geistigen Karton-Schwertern nachgespielten Schlachten irgendetwas lernen könnte für den Umgang mit den aktuellen Herausforderungen unseres Landes.

Das hielten bereits die Gründerväter und –mütter des modernen Bundesstaates so. Die hatten weder Zeit noch Interesse an einer Beschäftigung mit Schlachten aus damals schon grauen Urzeiten. Sie hatten nämlich alle Hände und Köpfe und Herzen damit zu tun, die Chancen, die sich aus den Beschlüssen des Wiener Kongresses von 1814 bis 1815 ergeben hatten, zu nutzen.

Der Wiener Kongress ist das am besten dokumentierte Ereignis der diesjährigen Jubiläumskaskade. Dort legten die Grossmächte die Grundlagen für eine souveräne, föderalistische und neutrale Schweiz. Natürlich taten sie das nicht aus Liebe zur Schweiz, sondern weil ihnen ein Pufferstaat zwischen den Blöcken sinnvoll erschien. Aber damals konnten wir diese Hilfe durchaus gebrauchen. Die Eidgenossen waren damals heftig zerstritten. Doch dank den Entscheiden des Wiener Kongresses rauften sie sich zur Willensnation zusammen und unser Land konnte sich zu dem erfolgreichen und wohlhabenden Staat entwickeln, der er heute ist.

Das war weder eine Selbstverständlichkeit, noch ein Spaziergang. Unsere Vorväter und Vormütter haben sich Fortschritt und Wohlstand hart erarbeitet und erkämpft. Gerade in unserem Kanton wissen wir, wie viel wir aufrührerischen Freisinnigen, energischen Industriellen, verkehrspolitischen Visionären und kämpferischen Arbeitern zu verdanken haben. Da war viel Mut im Spiel und Glauben an eine bessere Zukunft. Da waren selbstbewusste Bürgerinnen und Bürger am Werk, die ihre Interessen einbrachten und erkannten, dass es für eine fortschrittliche Gesellschaft zentral ist, darauf zu achten, dass die Interessen aller gesellschaftlichen Schichten berücksichtig werden. Welche Erkenntnisse können wir heute noch daraus ziehen? Es gibt keinen Gemeinsinn ohne Ausgleich. Und Angsthasen schaffen keinen Fortschritt.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, die Präambel unserer Bundesverfassung spiegelt den Geist dieser Zeit noch immer. Ich lese sie gerne, wenn ich in Bern vor schwierigen Entscheidungen stehe und abwägen muss, welche Auswirkungen dieser oder jener Entscheid auf den Alltag meiner Wählerinnen und Wähler hat, aber eben auch auf unser ganzes Gemeinwesen.

Die Präambel lautet:

Im Namen Gottes des Allmächtigen!

Das Schweizervolk und die Kantone,

in der Verantwortung gegenüber der Schöpfung,

im Bestreben, den Bund zu erneuern, um Freiheit und Demokratie, Unabhängigkeit und Frieden in Solidarität und Offenheit gegenüber der Welt zu stärken,

im Willen, in gegenseitiger Rücksichtnahme und Achtung ihre Vielfalt in der Einheit zu leben,

im Bewusstsein der gemeinsamen Errungenschaften und der Verantwortung gegenüber den künftigen Generationen,

gewiss, dass frei nur ist, wer seine Freiheit gebraucht, und dass die Stärke des Volkes sich misst am Wohl der Schwachen,

geben sich folgende Verfassung....

...und dann kommen die aktuell rund 200 Artikel, die so etwas wie die Schweizer Hausordnung sind - oft viel komplizierter formuliert als die einleitende Willensbekundung.

Man mag den Text für pathetisch halten und die Agnostiker mögen sich am angerufenen Allmächtigen stören, aber mir gefallen seine Aussagen ausserordentlich. Er bringt auf den Punkt, was die Erfolgsgeschichte der Schweiz ausmacht. Und die darin postulierten Absichten sind heute aktueller denn je. Gerade auch als Richtschnur im alltäglichen politischen Geschäft.

Ein paar Beispiele:

Wie gehen wir mit unseren natürlichen Ressourcen um? Die Verfassung spricht von Verantwortung gegenüber der Schöpfung und kommenden Generationen. Sie spricht nicht von rücksichtslosem Verbrauch und egoistischem Verzehr nach dem Motto «Nach uns die Sintflut».

Wie gestalten wir unser Verhältnis zur Welt? Die Verfassung spricht von einem Land, das selbstbewusst, solidarisch und offen mit den Nachbarn umgeht. Hier steht nichts von ängstlichem und kleinmütigem Abschotten. Weil wir uns nach dieser Regel gerichtet haben, wurden wir weltweit ein Vorbild, unsere humanitäre Tradition ist sprichwörtlich geworden. Die Neutralität, die unser Land zur geschätzten und geachteten Vermittlerin in vielen Konflikten gemacht hat und noch immer macht, ist eben nicht die Neutralität eines abseitsstehenden Feiglings, sondern die engagierte und glaubwürdige Neutralität, aus der die Autorität eines fairen Maklers entsteht. Wir müssen nur aufpassen, dass aus dem Sprichwörtlichen nicht tatsächlich ein reines Sprichwort wird.

Wie gehen wir miteinander um? Die Verfassung spricht von gegenseitiger Rücksichtnahme und Vielfalt in der Einheit. Hier steht nichts von «Jeder gegen Jeden». Und hier steht auch nichts davon, dass über Minderheiten rücksichtslos hinweggegangen werden soll. Denn die Verfassungsväter und –mütter wussten, dass in der Schweiz alle in irgendeiner Form zu einer oder auch ganz vielen Minderheiten gehören. Die Erfolgsgeschichte der Schweiz ist eine von Minderheiten, die sich im Interesse des grossen Ganzen – also diesem kleinen, viersprachigen Land im Herzen Europas – zu einer Willensnation zusammengeschlossen haben. In der Präambel der Verfassung steht auch der sehr weise und zu tiefst humanitäre Satz, dass «sich die Stärke des Volkes am Wohl der Schwachen misst». Das ist kein hübscher Spruch aus dem Poesie-Album der «Gutmenschen». Es ist der Kern jedes Zusammenlebens, von der Familie bis zur Weltgemeinschaft.

Liebe Mitbürgerinnen und Mitbürger, einer der einleitenden Sätze der Bundesverfassung geht jede und jeden von uns ganz persönlich und ganz direkt an. Es ist der Satz von der Freiheit: «Frei ist nur, wer seine Freiheit gebraucht.» Freiheit ist einer der ganz grossen Begriffe in der Schweizer Geschichte. In der Vergangenheit ging es um das tatsächliche oder sprichwörtliche Joch, das zerbrochen werden musste. Es ging um die Freiheit, seine Meinung sagen zu dürfen, auch wenn sie der Mehrheit oder den Mächtigen nicht passte. Es ging um die Freiheit, an der politischen Gestaltung mitwirken zu können unabhängig von ökonomischem Status, Religion und Geschlecht – wir Frauen mussten ja gerade darauf ganz lange warten. Wenn ich die Abstimmungsbeteiligungen ansehe, muss ich sagen: Da ist noch einige Freiheit, die nicht in Anspruch genommen wird.

Die Geschichten zur Schlachten-Geschichte erzählen viel davon, wie streitbar die Eidgenossen waren. Die Geschichte der modernen Schweiz erzählt davon, wie wilde freisinnige Debattierer die Welt besser machen wollten und dabei diesen einzigartigen Staat Schweiz schufen. Die neuere Geschichte erzählt von den Kämpfen, in denen die «Wenigbesseren» sich ihre Teilhabe am Wohlstand erstritten. In den vergangenen knapp 200 Jahren sind wir als Nation immer dann gut gefahren, wenn – manchmal auch nach heftigem Streit – ein Konsens gefunden wurde und wir uns zusammengerauft haben

Ich wünsche unserem Land zum heutigen Festtag weiterhin mehr mutige als ängstliche Menschen. Wieder mehr Debatte und weniger Demagogie. Viele Bürgerinnen und Bürger, die ein selbstbewusstes «In der Welt stehen» nicht mit der Arroganz der Selbstgerechten verwechseln. Und vor allem wünsche ich unserer Schweiz mehr Menschen, die ab und zu die erste Seite des Familienbüchleins lesen: die Präambel unserer Verfassung.

03. Aug 2015