Eine Expert:innengruppe des Europarats – die Group of Experts on Action against Violence against Women and Domestic Violence (GREVIO) – prüft dieses Jahr, wo die Schweiz bezüglich der Bekämpfung von häuslicher, sexualisierter und geschlechtsspezifischer Gewalt steht. Zwei GREVIO-Mitglieder kommen dieser Tage in die Schweiz. Von besonderem Interesse ist ihr Besuch hinsichtlich der laufenden Revision des Sexualstrafrechts. Er wirft aber auch Licht auf andere grosse Defizite bei der Gewaltbekämpfung.

Vor fast vier Jahren ist das Übereinkommen des Europarats zur Verhütung und Bekämpfung von Gewalt gegen Frauen und häuslicher Gewalt (Istanbul-Konvention) in der Schweiz in Kraft getreten. Doch in der Umsetzung stockt es – viele Massnahmen sind noch nicht oder ungenügend umgesetzt. Für die Überprüfung zuständig ist die GREVIO-Expert:innengruppe. Ihr Bericht über die Schweiz wird voraussichtlich dieses Jahr veröffentlicht.


Doch für die SP Frauen ist bereits klar, dass Aufholbedarf besteht: «Es ist zu wenig gemacht worden in diesen vier Jahren», so Tamara Funiciello, Co-Präsidentin der SP Frauen Schweiz. «Der Bundesrat muss geschlechtsspezifische Gewalt endlich priorisieren und rascher, resoluter und effizienter vorgehen.»

Fehlende Gelder als grosses Hindernis

Für Fachorganisationen und Personen, die in der Gewaltbekämpfung tätig sind, ist der massive Mangel an finanziellen Mitteln das grösste Hindernis. Gemäss Art. 8 der Istanbul-Konvention muss der Staat angemessene finanzielle und personelle Mittel zur Verfügung stellen. Ungenügende Angebote für Personen mit Mehrfachdiskriminierung, finanzielle Engpässe bei Beratungsstellen für Opfer und Tatpersonen und nicht zuletzt Berichte von Schutzunterkünften, die Gewaltbetroffene abweisen müssen, machen deutlich, dass die notwendigen Finanzen über weite Strecken fehlen. Dies steht auch im Alternativbericht des Netzwerks Istanbul Konvention von Juni 2021.

«Wenn Bund und Kantone es ernst meinen mit der Gewaltbekämpfung, dann müssen sie endlich die nötigen Gelder dafür freigeben», sagt Martine Docourt, Co-Präsidentin der SP Frauen Schweiz. «Ansonsten bleibt die Ratifizierung der Istanbul-Konvention ein leeres Versprechen.»

Strafverfolgungsbehörden sensibilisieren

Ein weiteres grosses Defizit gibt es beim Umgang von Strafverfolgungsbehörden mit Opfern von sexualisierter Gewalt. Eine Umfrage der Kantonspolizei Bern hat dies kürzlich bestätigt. Betroffene, die sich medial dazu äusserten, berichteten von retraumatisierendem und unsensiblem Umgang, sowohl bei Einvernahmen durch die Polizei wie auch durch die Staatsanwaltschaften.

Die SP Frauen fordern, dass Strafverfolgungsbehörden obligatorisch zum Umgang mit Gewaltbetroffenen geschult werden und dies Teil ihrer Ausbildung wird. Dies entspricht einer Vorgabe der Istanbul-Konvention (Art. 15). Ausserdem braucht es dringend schweizweit spezialisierte Krisenzentren für die medizinische Erstversorgung inkl. Spurensicherung von Gewaltopfern, nach dem Beispiel von Bern oder Lausanne, wie es in Art. 25 der Istanbul-Konvention steht.

Neudefinition von Vergewaltigung: Nur Ja heisst Ja!

Die Istanbul-Konvention dient uns auch als Orientierung in der Revision des Sexualstrafrechts. Art. 36 fordert, dass fehlende Zustimmung das ausschlaggebende Kriterium bei der Definition von sexuellen Übergriffen und Vergewaltigung ist. Die Rechtskommission des Ständerats will am 17. Februar 2022 ihren Gesetzesentwurf zur Sexualstrafrechtsrevision präsentieren.

«Die über 10‘000 Vernehmlassungsantworten haben ein deutliches Zeichen gesetzt», sagt Tamara Funiciello. «Wir fordern eine Neudefinition von Vergewaltigung nach dem Grundsatz ‚Nur Ja heisst Ja‘ und werden solange dafür kämpfen, bis unser Recht auf Selbstbestimmung Gesetz ist.»

03. Feb 2022